
Die Machart kommt einem bekannt vor: Schon wieder so ein knallbunter französischer Film mit Retrocharme, in dem á la „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (2001) ein kontaktgehemmtes Paar in spe erst metaphorisch, dann buchstäblich ein paar Mal aneinander vorbeilaufen muss, um sich am Ende doch zu finden. Genau diese Erwartungshaltung bediente Regisseur Regis Roinsard schon 2012 in seiner Romanze „Mademoiselle Populaire“ über einen Schreibmaschinen-Wettbewerb; darin verliebten sich ein ambitionierter Chef und seine fix tippende Sekretärin ineinander.
Info
Warten auf Bojangles
Regie: Régis Roinsard,
124 Min., Frankreich 2020;
mit: Romain Duris, Virginie Efira, Grégory Gadebois
Weitere Informationen zum Film
Zwei Gäste ohne Einladung
Ende der 1950er Jahre tobt an der Côte d’ Azur das mondäne Jet-Set-Leben in Villen am Meer. Daran will auch George (Romain Duris) teilhaben; der durchtriebene Schlawiner macht im Smoking stets eine blendende Figur. Mit Phantasie und Chuzpe kann er sich in jede High-Society-Party schmuggeln. An diesem Abend ist er aber nicht der einzige ungebetene Gast.
Offizieller Filmtrailer
Party-Marathon in Paris
Zwischen geschäftig netzwerkenden Großbürgern tanzt eine junge Frau (Virginie Efira) selbstvergessen in der Menge; sie zieht alle Blicke auf sich. Heute sei sie Antoinette, sagt sie dem neugierigen George: Immer dieselbe Person zu sein, sei langweilig, fügt sie hinzu – und verschwindet. Der Partylöwe setzt nun alles daran, diese rätselhafte Dame für sich zu gewinnen; bei einem gemeinsamen Tanz verrät sie ihm ihren wahren Namen: Camille.
All das geschieht im Schnelldurchlauf; eigentlich nur als Einführung in die eigentliche Handlung. Sie wird aus der Sicht ihres gemeinsamen Sohnes Gary erzählt, der bald darauf zur Welt kommt. Einige Jahre später lebt die Familie in Paris und lässt es sich gut gehen: mit ausschweifenden Partys in ihrer großzügigen Wohnung, wo irgendwann immer zum Lied „Mr. Bojangles“ geschwoft wird – dieser Song über einen alten, abgehalfterten Showtänzer wird im Verlauf des Films in verschiedenen Versionen intoniert.
Privatunterricht bei Mama
Was weder George noch Sohn Gary ahnen: Camille wird nicht immer ausgelassen herumwirbeln – sie verbirgt eine andere, dunkle Seite vor ihnen. Bevor diese sich zeigt, malt Roinsard ein Bild unbeschwerten Bohème-Lebens, das sich irgendwie finanzieren lässt, auch weil ein wohlhabender Freund der Familie und ehemaliger Bewunderer von Camille öfter mit Zuschüssen einspringt.
Denn für ihren luxuriösen Lebenswandel reicht Georges Gehalt als Gebrauchtwagenhändler nicht aus. Ebenso wenig reicht die Phantasie von Garys Mitschülern und Lehrern aus, um seinen Schilderungen Glauben zu schenken, wie glamourös und turbulent es bei ihm zuhause zugehe. Das veranlasst Camille dazu, ihn von der Schule zu nehmen und fortan selbst zu unterrichten.
Amour Fou mündet in manischer Depression
Wie in einem Kokon erzählen sich Mutter und Sohn nun Geschichten und erfinden ihre eigene, schillernde Realität, die nicht ewig Bestand haben kann. Camille Eskapaden, die anfangs als charmante Exzentrizität erschienen, werden zunehmend zu schrillen Ausfälle, die das häusliche Gleichgewicht aus dem Lot bringen. Schließlich sieht George keinen anderen Ausweg mehr, als seine Frau in eine psychiatrische Klinik zu bringen – damals noch weniger als heute ein Garant für Heilung.
Hintergrund
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Raumskulptur aus ungeöffneten Briefen
Wie bei Camilles Krankheit die Stimmungslagen wechselt auch der Film zwischen buntem Trubel und grau-nüchterner Tristesse, sowohl in der Dramaturgie als auch im Szenenbild. So wird das Wesen dieser Störung auch optisch nachvollziehbar, ohne emotionale Manipulation. Wobei manche Details deutlich machen, dass ein unglückliches Ende unvermeidlich erscheint: Garys Mutter verleugnet gern Aspekte der Realität, die ihr unangenehm sind. So stapeln sich beispielsweise ungeöffnete Briefumschläge im Eingangsbereich der Wohnung, bis sie wie eine riesige Raumskulptur aussehen.
Dennoch will George an der Liebe seines Lebens festhalten und den Status Quo bewahren. Vergebens: Als er die mit Medikamenten vollgepumpte Camille aus der Klinik entführt und sie ins abgelegene Haus eines alten Freunds mit Blick aufs Meer bringt, ist jede Illusion erledigt. Heilung findet sie auch hier nicht; so entscheidet sich in einem lichten Moment für den endgültigen Ausweg. In dieser Lösung liegt aber auch Trost; tanzen werden in Zukunft andere.