
Wir hier drinnen, die da draußen: Familien, Dorfgemeinschaften, Nationen und Religionen beruhen auf diesem Narrativ. So werden Individuen und Gruppen als zugehörig oder fremd markiert. Die Bewohner eines Luxushochhauses inmitten eines ausgedehnten Waldgebietes haben sehr genaue Vorstellungen darüber, wer zu ihnen passt und wer nicht. In einer bedrohlichen Umwelt, deren Gefahren allerdings nur angedeutet werden, bietet das Haus eine sichere Insel. Entsprechend anspruchsvoll ist der Bewerbungsprozess um die begehrten freien Wohnungen. Ein Komitee aus alteingesessenen Bewohnern entscheidet über Neuaufnahmen.
Info
Wir könnten genauso gut tot sein
Regie: Natalia Sinelnikova,
93 Min., Deutschland 2022;
mit: Ioana Iacob, Pola Geiger, Jörg Schüttauf, Şiir Eloğlu
Weitere Informationen zum Film
Ein ehrenwertes Haus
Im Zentrum des Geschehens steht Anna (Ioana Iacob). Die ebenso strenge wie korrekte Wachfrau sorgt seit sechs Jahren für die Sicherheit des Hauses und seiner Bewohner. Nur ein leichter osteuropäischer Akzent verrät, dass Anna noch eine andere Geschichte zu erzählen hätte – wenn sie sich denn zu einer privaten Plauderei hinreißen ließe. Doch Anna wahrt eine freundlich-professionelle Distanz zu ihrer Umwelt.
Offizieller Filmtrailer
Angst im Bad
Nur ihre beste Freundin Zeynep (Özlem Sagdiç) weiß, dass sich Annas halbwüchsige Tochter Iris (Pola Geiger) seit einiger Zeit im Bad eingeschlossen hat und sich kategorisch weigert, herauszukommen. Sie glaubt, dass sie selbst mit ihrem bösen Blick Gertis Hund verschwinden ließ. Das erscheint zutiefst irrational – ist aber im Grunde nur die Reaktion des Teenagers auf die Sicherheits-Besessenheit und Harmoniesucht der Hausgemeinschaft.
Solche irrealen, beinahe absurden Momente flicht Regisseurin Natalia Sinelnikova immer wieder in ihren Film ein. Damit bewahrt sie „Wir könnten genauso gut tot sein“ vor fingerzeigendem Moralismus, der leicht in Plattitüden mündet: Dass die Hochhausgemeinschaft eine Parabel auf die Überängstlichkeit und Anpassungssucht unserer oftmals so kleinlichen Filterblasengesellschaft ist, ist von Anfang an offensichtlich.
Hohe Zäune, grauer Himmel
Hintergrund
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Die Bilder werden von einem ausgetüftelten Klangkonzept getragen – auch das findet man bei heimischen Produktionen selten. In Sinelnikovas Film wird der Score nicht auf Untermalung reduziert, sondern bildet eine eigene Ebene. Viele Szenen sind mit einem dissonanten, elektronischen Klangteppich unterlegt – zunächst kaum wahrnehmbar, dann unterschwellig beunruhigend. Ganz im Gegensatz dazu ist in anderen Szenen Gesang zu hören – acapella, polyphon und glockenhell.
Hauptdarstellerin Ioana Iacob verleiht ihrer wortkargen, stoischen Anna das genau kalkulierte Gebaren eines überangepassten Menschen. Als nicht einheimische und alleinerziehende Frau steht ihr Leben permanent unter Bewährung. Anna versucht unter allen Umständen, korrekt zu sein: Auf Bestechungsversuche geht sie nicht ein, ihre Meinung behält sie weitgehend für sich. Und doch sieht man im nuancierten Spiel Iacobs, wie sehr sie diese inneren Verrenkungen belasten und wie sie die zunehmende Hysterie im Haus irritiert. Ganz dazugehören wird sie nie – egal, wie sehr sie sich darum bemüht.