Aelrun Goette

In einem Land, das es nicht mehr gibt

Rudi (Sabin Tambrea) nimmt Suzie (Marlene Burow) mit in eine völlig neue Welt. Foto: Tobis Film/ Ziegler Film
(Kinostart: 6.10.) Als Model im real existierenden Sozialismus: Suzi fliegt von der Schule, weil sie Verbotenes liest – und landet unversehens mitten in der Ostberliner Bohème. Regisseurin Aelrun Goette beschreibt das Leben kurz vor der Wende – zwischen Subkultur und Anpassung.

Die DDR war nicht nur von dauergewellten, sächselnden Menschen in Karottenjeans bevölkert – dank etlicher Filme und Dokumentationen dürfte sich das inzwischen herumgesprochen haben. Wenn das Leben im real existierenden Sozialismus illustriert werden soll, spielt oft die Zeitschrift „Sybille“ eine zentrale Rolle – so auch in „In einem Land, das es nicht mehr gibt“.

 

Info

 

In einem Land, das es nicht mehr gibt

 

Regie: Aelrun Goette,

100 Min., Deutschland 2022;

mit: Marlene Burow, Sabin Tambrea, David Schütter

 

Weitere Informationen zum Film

 

Goette zeichnet das Bild eines Ostberliner Undergrounds, wo sich Dichter, Künstler und Journalisten im realsozialistischen Alltag um Schönheit bemühen. In diese glamouröse Gesellschaft wird Hauptfigur Suzie (Marlene Burow) unversehens hineinkatapultiert – nur wenige Monate, bevor dieses Land verschwindet.

 

Fabrik statt Literatur

 

Suzie steht kurz vor dem Abitur, da fliegt sie von der Schule: Sie ist mit einer Ausgabe von Orwells verbotenem „1984“ erwischt worden. Das Literaturstudium und die anvisierte Schriftstellerkarriere rücken erst einmal in weite Ferne. Stattdessen soll sich die 18jährige als Arbeiterin in der Produktion bewähren. Auf dem Weg in die Fabrik wird sie von einem Fotografen abgelichtet, der für die „Sibylle“ arbeitet.

Offizieller Filmtrailer


 

Der aufrechte Gang

 

Dieser Schnappschuss erscheint ohne ihr Wissen auf dem Cover der Zeitschrift – und öffnet ihr alsbald die Türen zum elitären Modeinstitut der DDR. Das wird von Elsa Wilbrodt (Claudia Michelsen) streng geführt. Sie erklärt der beeindruckten Suzie in einem ausführlichen Monolog, dass sie sich und ihre Redaktion als Bastion der Schönheit in einer planwirtschaftlichen Modewüste versteht.

 

In ihrem schicken Büro soll das Mädchen das erste Mal den aufrechten Gang in roten High Heels demonstrieren – ein entscheidender Moment: Sie begreift, dass es mehr gibt als angepasstes Außenbezirksleben mit Familie und vielleicht ein Studium. Freigeister wie Rudi (Sabin Tambrea) und Fotograf Coyote (David Schütter) eröffnen ihr eine neue Welt, in der es um Haltung im übertragenen Sinn geht – um den anderen aufrechten Gang. Als Mannequin hat sie die Chance, der schmutzigen Produktion wieder zu entkommen, und ihre robusten Kolleginnen, darunter Jördis Triebel mit dunkelblondem Minipli, unterstützen sie voller Sympathie.

 

Erdbeerfolie und Duschvorhänge

 

Sicher ist der Filmtitel absichtlich etwas märchenhaft gewählt und erhebt keinen Anspruch auf historische Akkuratesse. Das Setting wirkt dennoch überzeugend und authentisch. Aelrun Goette, die über zehn Jahre um die Realisierung ihres Films gekämpft hat, zeigt hier sehr lebendig eine farbenprächtige Facette des untergegangenen Landes – und schöpft dabei aus ihren eigenen Erfahrungen als Model zwischen offizieller Modepräsentation und Subkultur.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Leander Haußmanns Stasikomödie" - über DDR-Spitzel von Leander Haußmann

 

 und hier einen Bericht über den Film "Lieber Thomas" – brillant furioses Biopic über den deutsch-deutschen Dichter Thomas Brasch von Andreas Kleinert mit Albrecht Schuch

 

und hier eine Besprechung des Films "Gundermann" - gelungen facettenreiches Biopic über den DDR-Liedermacher von Andreas Dresen

 

und hier einen Beitrag über den Film "Anderson" – informative Doku über die Szene-Größe + Stasi-Spitzel Sascha Anderson von Annekatrin Hendel

 

Zu gerne möchte man in die wilde, kreative WG von Kostümbildner Rudi einziehen, wo Thomas-Brasch-Bücher herumliegen und aus Erdbeerfolie und Duschvorhängen Modelle für eine illegale Modenschau gebastelt werden – ironisch „glamourös, betörend, auserlesen“ genannt. Vorbild ist unübersehbar die Anfang der 1980er gegründete Truppe „Chic, charmant und dauerhaft“, der auch der junge Sven Marquardt angehörte.

 

Kleinbürgertum und Subkultur

 

Man erobert sich schöpferisch einen lebenswerten Freiraum, in den die Realität als unliebsamer Störfaktor einwirkt – in Gestalt der Staatsmacht, etwa mit gelegentlichen Festnahmen wegen zu ausgefallener Kleidung. Das wird wie nebenbei erzählt, wie auch das nicht immer glamouröse Modelleben eher beiläufig gezeigt wird. Im Vordergrund steht das schnelle Erwachsenwerden Suzis, hin-und hergerissen zwischen offizieller Modepräsentation, Subkultur und dem unauffälligem Kleinbürgertum des Elternhauses. Man kann Suzis Zerrissenheit nachfühlen, wenn sie sich in den rebellischen Fotografen des Schnappschusses verliebt, der Stasispitzel offen angeht und Kontakte zu Westmedien unterhält.

 

Manch andere Begebenheiten, etwa der erste Modelauftritt mit Minister auf der Leipziger Messe oder der Zickenkrieg zwischen ihr und der mißtrauischen Neukollegin Uta (Sira Topic), erscheinen weniger überzeugend. Dagegen möchte man mehr von der rauschhaften Inszenierung der Modenschau der Underground-Truppe sehen. Niemand ahnt, dass dieses Leben sich bald für alle ändern wird – obwohl sich erste Auflösungserscheinungen zeigen: Fotograf Coyote verschwindet über Nacht Richtung Ungarn. Die große Erschütterung der Wende aber spart der Film aus; das wäre dann ja schon ein anderes Land.