
Die demographische Entwicklung macht auch vor romantischen Komödien und Beziehungsfilmen nicht halt. Charlotte (Sandrine Kiberlain), die Protagonistin in Emmanuel Mourets „Tagebuch einer Pariser Affäre“, ist Mitte Fünfzig und Mutter dreier Kinder. Mit dem Wunsch nach Beziehungen und Leidenschaft meint sie abgeschlossen zu haben – guter Sex sollte aber auch ohne verbindliche oder gar verpflichtende Gefühle zu haben sein.
Info
Tagebuch einer Pariser Affäre
Regie: Emmanuel Mouret,
100 Min., Frankreich 2022;
mit: Sandrine Kiberlain, Vincent Macaigne, Georgia Scalliet
Weitere Informationen zum Film
Alle Ansprüche ausgeschlossen
Andererseits passt ihr Vorschlag aufs Schönste zu seiner während langer Ehejahre heimlich gehegten Phantasie: eine geheime Affäre. Bisher hat er nie gewagt, sie in die Tat umzusetzen, weil er Angst vor den Komplikationen hatte, die sich daraus ergeben könnten. Mit Charlotte jedoch scheint alles ganz einfach zu sein: Es geht allein um den Augenblick – Ansprüche aneinander, Eifersucht und Szenen werden per Verabredung ausgeschlossen.
Offizieller Filmtrailer
Rastloses Reden
Was beide allerdings ebenso verbindet wie der Sex – den der Film fast gänzlich im Off und damit in den Köpfen des Publikums spielen lässt – ist ihre Freude am Reden. Von Anfang an sagen sie einander sehr offen, was sie denken und wollen. Insbesondere Simon spricht, wenn er verlegen ist, alles ungefiltert aus, was ihm durch den Kopf geht. So kommen die beiden einander und auch den Zuschauern schnell näher.
Experimentelle Herangehensweisen an die Themen „Begehren“ und „sexuelle Selbstverwirklichung“ sind im Kino nicht gerade Neuland – Emmanuel Mourets Film jedoch untersucht sie auf originelle und intelligente Weise. Dabei widmet er sich ganz seinen beiden Hauptfiguren: Von ihren Begierden getrieben, sind sie fortwährend auf der Suche nach den richtigen Worten. Daraus ergeben sich nicht nur verblüffend witzige Dialoge, sondern auch eine andauernde Rastlosigkeit der Charaktere.
Der Kamera verloren gehen
Sie äußerst sich vor allem in einem unaufhörlichen Bewegungsdrang, der die Protagonisten – und den Film insgesamt – einer ungewissen Zukunft entgegen zu treiben scheint. Immer wieder verschwinden Charlotte und Simon während ihrer Unterhaltungen hinter Regalen oder Zimmerecken, gehen der Kamera verloren und tauchen wieder im Bild auf. Oder sie nehmen einander an der Hand, um gemeinsam zum nächsten Stelldichein zu sprinten.
Im Cinemascope-Format folgt ihnen die Kamera dabei in Wohnungen, Parks, Hotelzimmer und Berglandschaften. So entsteht trotz der rigiden Fokussierung auf die Hauptfiguren nie der Eindruck, man wohne einem Kammerspiel bei.
Grenzen der Unverbindlichkeit
Alles, was nicht direkt mit ihrer Affäre zu tun hat, bleibt außerhalb der Leinwand. Simons Frau und Kinder kommen ebenso wie Charlottes Umfeld allein in Aussagen der beiden Protagonisten vor. Vor jeder neuen Begegnung zeigt das vorangestellte Datum, wie viel Zeit zwischen ihren Treffen vergangen ist. Die wird, zumindest in der ersten Hälfte der Handlung, immer kürzer. Bald sehen Charlotte und Simon einander dauernd – und immer häufiger kommen sie nicht umhin, einander zu sagen, wie sehr sie das genießen.
Hintergrund
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Alles ist Interpretationssache
Selbstverständlich kann ein beglückender Schwebezustand nicht beliebig lang aufrechterhalten werden. Auch Charlotte und Simon brauchen irgendwann neue Herausforderungen. Also daten sie eine junge Frau für eine ménage à trois: Louise (Georgia Scalliet). Eine Erfahrung, die Veränderungen auslösen wird.
Interessant an „Tagebuch einer Pariser Affäre“ ist vor allem, wie Mouret durch seine Auslassungen dem Publikum viel Raum für die eigene Vorstellungskraft gibt. An einer Stelle sagt Simon, dass er bei keinem Treffen wirklich weiß, ob es danach ein weiteres geben wird – nach ihrem Pakt gehört das zum Spiel und macht dessen Reiz mit aus. Mehr weiß auch der Zuschauer nicht; er muss Dialoge und Gesichtsausdrücke ebenso interpretieren wie die Beteiligten. So entwickelt man Interesse und Anteilnahme an den auf den ersten Blick unspektakulären Charakteren.
Gerade durch seine Zurückhaltung gelingt es Emmanuel Mouret mit seinem gut aufgelegten Team, dem französischsten aller Kinogenres, dem dauerpalavernden Beziehungsfilm, neue interessante Seiten abzugewinnen – ohne auf erotische Oberflächenreize zu setzen.