Marcel Mettelsiefen

Tanja – Tagebuch einer Guerillera

Tanja Nijmeijer (mi.) begrüßt einen FARC-Guerillero. Foto: mindjazz pictures
(Kinostart: 15.6.) Von Europa nach Kolumbien zum Freiheitskampf im Dschungel: Die Niederländerin Tanja Nijmeijer war jahrelang in den Reihen der FARC-Guerilla aktiv. Regisseur Marcel Mettelsiefen porträtiert sie fair und unvoreingenommen, mit authentischem Bildmaterial, aber schwacher Übersetzung.

Was bringt eine junge Frau dazu, wegen ihrer Überzeugungen zu den Waffen zu greifen? Und später diese wieder niederzulegen? Noch dazu in einem Land, das tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt liegt? Deutschland hat nur wenige berühmte Legionärinnen der Revolution hervorgebracht: Jeder in der DDR kannte Tamara Bunke, die in Kuba an der Seite von Che Guevara kämpfte. Weniger bekannt ist die Geschichte von Monika Ertl, Tochter von Hans Ertl – einem Bergsteiger, Filmemacher und Chef-Kameramann von Leni Riefenstahl –, die 1973 als Mitglied der bolivianischen Guerilla ELN erschossen wurde.   

 

Info

 

Tanja – Tagebuch einer Guerillera

 

Regie: Marcel Mettelsiefen,

84 Min., Kolumbien/ Deutschland 2023;

mit: Tanja Nijmeijer 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der Werdegang der Niederländerin Tanja Nijmeijer ist mindestens ebenso spannend, wendungsreich und mitunter schier unglaublich. Am Unwahrscheinlichste daran ist, dass sie immer noch am Leben ist, um ihre Geschichte zu erzählen. Diese beginnt in einer niederländischen Kleinstadt, aus deren Enge die junge Studentin entkommen möchte: Mit Anfang 20 geht sie als Englischlehrerin nach Kolumbien.

 

Rasche Politisierung

 

Dort herrscht seit Mitte der 1960er Jahre ein Bürgerkrieg zwischen liberal bis konservativen, westlich orientierten Regierungen und der linken Untergrundorganisation FARC; sie operiert vor allem in abgelegenen Provinzen und kämpft für bessere Lebensbedingungen der Landbevölkerung. Tanjas Politisierung vollzieht sich sehr schnell. Sie wird für die FARC zunächst in der Hauptstadt Bogotá aktiv.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Als Opfer der Guerilla missverstanden

 

Als das für sie zu gefährlich wird, schließt sie sich der Guerilla im Hinterland an. Ihr Fall wird publik, als die kolumbianische Armee ein Lager der FARC einnimmt, das  zuvor eilends verlassen worden war, und dabei auf Nijmeijer Tagebuch stößt, das sie zurückgelassen hatte. Es fällt einer Journalistin in die Hände, die sich entschließt, Auszüge zu veröffentlichen. Nun wird Tanjas Fall in Kolumbien und in den Niederlanden bekannt.

 

Interessanterweise hält man sie erst für ein Opfer der Guerilla. Tanjas Aufzeichnungen sind als Briefe an eine Studienfreundin in den Niederlanden gerichtet; darin übt sie auch Kritik an der FARC. Diese hat mittlerweile den Kokain-Handel als Einnahmequelle erschlossen. Die Drogen-Profite hinterlassen ihre Spuren in der Untergrund-Gemeinschaft. Unter den Anführern herrschen Korruption und Machtspiele – ihrer Enttäuschung darüber macht Tanja in ihrem Tagebuch Luft.

 

Begrüßung mit Waffe in der Hand

 

Deshalb wird sie von der Presse als eines der vielen FARC-Entführungsopfer betrachtet. Mehr noch: Man geht davon aus, dass Tanja innerhalb der Organisation als Verräterin gilt und um ihr Leben fürchten muss. Als jedoch ein anderer Journalist mit Kamerateam ein FARC-Lager aufsucht, trifft er dort eine offenbar bestens integrierte Tanja an. Sie sagt klar und deutlich: Wenn die kolumbianische Armee anrückte, um sie zu „retten“, würden sie und ihre Mitstreiter sie mit Waffen in den Händen erwarten.

 

Solche Stellen machen den Film sehr eindringlich. Er wartet mit zahlreichen Fernseh- und Videobildern auf, die das Geschilderte präzise illustrieren. Wenn es heißt, Tanja marschiere mit den Kämpfern, sehen wir nicht irgendeine Truppe aus dem Archiv, sondern sie selbst mit ihrer Kompanie. Offenbar haben sowohl die Armee als auch die Guerilla ihre Operationen ausgiebig gefilmt. Im Wechsel mit Interviewpassagen, Zeitungsausschnitten und O-Tönen erhält so die Darstellung eine seltene Unmittelbarkeit.

 

Reflektierter Rückblick auf Dschungel-Dasein

 

Leider offenbart der Film auch Schwächen, etwa in der deutschen Übersetzung und Untertitelung. Ganze Passagen aus dem Niederländischen und Spanischen wirken unvollständig oder unpräzise. In der Episode um die Journalistin, die Tanjas Tagebücher veröffentlicht hat, geraten in der Bild-Ton-Montage auch noch Chronologie und Plausibilität durcheinander.

 

Für die Vorgehensweise des Regisseurs Marcel Mettelsiefen spricht jedoch, dass er Tanja nicht für seine eigene Interpretation der Sachverhalte zu vereinnahmen versucht. Die Ex-Kämpferin, mittlerweile nicht mehr Mitglied der FARC ist, spricht reflektiert und selbstbewusst über ihre Jahre im Dschungel.

 

Wer ist für wen warum Terrorist?

 

Sie räumt eigene Fehler und solche der Guerilla ein, erinnert aber auch daran, dass selbst deren Terror-Aktionen kaum zu vergleichen sind mit der Brutalität der Armee und mit ihnen verbündeten rechter Milizen. Letztere waren nach Angaben des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs Luis Moreno-Ocampo von 2008 für rund 80 Prozent der Morde an Zivilisten verantwortlich, die FARC für 12 Prozent und die Regierungstruppen für acht Prozent.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Monos – Zwischen Himmel und Hölle" – bildgewaltiges Guerilla-Epos im kolumbianischen Dschungel von Alejandro Landes

 

und hier eine Besprechung des Films "Los Conductos" – nihilistischer Desperado-Film aus Kolumbien von Camilo Restrepo

 

und hier einen Beitrag über den Film "Der Schamane und die Schlange – Embrace of the Serpent" – brillant vielschichtiges Kolonialdrama im kolumbianischen Amazonas-Urwald von Ciro Guerra.

 

In der Öffentlichkeit ist die Stimmung mittlerweile umgeschlagen: Tanja gilt inzwischen als überzeugte Terroristin, und mithin als unzurechnungsfähig. Die geläufige Verwendung des Begriffs kritisiert Nijmeijer in einem kürzlich geführten Interview. Sie betrachtet es als eine Art „Branding“ des Etablishments, mit dem sich auch gerechtfertigte Kritik an herrschenden Verhältnissen öffentlichwirksam diskreditieren lässt.

 

Fußballfeld voller Maschinengewehre

 

Doch Tanjas Geschichte geht weiter: Sie exponiert sich abermals, als sie bei Gesprächen über die Freilassung mehrerer festgehaltener US-Piloten als Übersetzerin fungiert. Nun führt auch die CIA sie auf ihrer Terrorliste. Als 2016 nach einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg mit mehr als 200.000 Todesopfern endlich in Havanna Friedensverhandlungen zwischen der Guerilla und der Regierung stattfinden, zählt sie zur FARC-Delegation.

 

Diese stimmt schließlich ihrer Entwaffnung zu, und Tanja Nijmijer gehört dem Komitee an, das diese überwacht. Der Film endet mit einem Rückwärtszoom auf ein Fußballfeld voller AK-47-Gewehre. Das Bild ist beeindruckend und stiftet Hoffung über die Grenzen des kolumbianischen Konflikts hinaus – doch es ist leider nicht mehr aktuell.

 

Zum Exil verurteilt

 

Frustriert vom Verlauf des Friedensprozesses hat 2019 eine Fraktion der FARC den bewaffneten Kampf wieder aufgenommen. Tanja Nijmeijer ist nicht dabei, steht aber immer noch auf internationalen Fahndungslisten und müsste bei ihrer Rückkehr in die Niederlande mit ihrer Verhaftung rechnen. Sie lebt weiterhin im Exil.