
Die Hebamme Marlena (Dorota Kolak) und ihr jüngerer Partner Tomasz (Łukasz Simlat) leben zurückgezogen in einer labyrinthartigen Wohnung in den polnischen Ostseedünen. In der ersten Szene des Films lieben sie sich vor großen Panoramafenstern, hinter denen ein imposanter Himmel zu sehen ist. Trotz ihrer offensichtlich tiefen Gefühle füreinander liegt auch beim Sex eine Ahnung von Verlorenheit über ihrer stillen Zweisamkeit.
Info
Die Verlorenen
Regie: Tomasz Wasilewski
109 Min., Polen/ Deutschland/ Rumänien 2022;
mit: Dorota Kolak, Łukasz Simlat, Tomasz Tyndyk
Weitere Informationen zum Film
Häusliche Pflege zerstört die Beziehung
Schon der Transport des Kranken in seinem sperrigen Pflegebett durch die engen Gänge ihres Wohnkomplexes gestaltet sich schwierig. An den Anforderungen der Pflege, die regelmäßiges Windelwechseln und Waschen des Patienten miteinschließen, zerbricht schließlich der Zusammenhalt des Paares. Als Marlena sich in Mikoleis Gegenwart nicht mehr auf Körperlichkeit mit Tomasz einlassen kann, verlässt er sie, was zu beiderseitiger Verzweiflung führt.
Offizieller Filmtrailer OmU
Ästhetik der Schwere
Regisseur Tomasz Wasilewski beschäftigte sich bereits in seinen vorherigen Filmen „Tiefe Wasser“ (2013) und „United States of Love“ (2016) mit schwierigen Beziehungen und Gefühlen. Nun radikalisiert er in „Die Verlorenen“ seinen Ansatz, die Liebe auf allen Ebenen zu sezieren. Dass dies ein schmerzhafter Prozess ist, nimmt er in Kauf, aber er geizt auch nicht mit visuellen Reizen. Seit „Lawrence von Arabien“ 1962 hat man selten derart pathetische Aufnahmen von Himmel, Meer und Sandflächen gesehen.
Doch sowohl in der Natur als auch in den braunen Interieurs der Wohnung, die an Filme von David Lynch erinnern, wirken die Charaktere existenziell isoliert und verlassen. Unterstützt wird das vom extremen Breitwandformat der Bilder, der Reduzierung der Dialoge aufs Allernotwendigste sowie dem gänzlichen Verzicht auf Filmmusik. Diese Ästhetik korrespondiert mit der Schwere des psychologischen Themenansatzes, die sich erst nach und nach offenbart.
Überdimensionierte Schönheit
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Cold War - Der Breitengrad der Liebe" – wunderbar intensives polnisches Liebes-Melodram von Pawel Pawlikowski
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und hier einen Beitrag über den Film "Mutter & Kind – Child’s Pose" – Psychodrama über eine verkorkste Mutter-Kind-Beziehung von Călin Peter Netzer
Dieses Vorgehen wird der Schwere des Themenkomplexes, der mit den Stichworten Liebe und Mutterschaft noch lang nicht angemessen beschrieben ist, sicherlich gerecht. Fraglich ist aber, ob der Film sein Publikum, das er in mehrerer Hinsicht im Dunkeln tappen lässt, bis zur großen Auflösung mitnimmt. So schön viele der präsentierten Bilder sind – in ihrem Willen, wie Caspar David Friedrich in seinen Gemälden die Wucht des letztlich unmenschlichen Erhabenen abzubilden, wirken sie ebenso wie das Bildformat für diese Erzählung überdimensioniert.
Warten auf den tieferen Grund
Dafür kommt man den Charakteren zu wenig nahe, die kaum bereit sind, das Nötigste preiszugeben. Zwar ahnt man irgendwann, dass das einen ungewöhnlich tiefen Grund haben muss. Doch ob das reicht, das Interesse an erratischen Handlungen und pathosgeladenen Totalen fast zwei Stunden lang aufrechtzuerhalten, darf bezweifelt werden. Auch die Aufladung mit religiöser Symbolik erzeugt zwar große Bilder, erklärt aber wenig. Stattdessen beschleicht den Zuschauer bald das Gefühl, der Regisseur habe sich an seinem bedeutungsschwangeren Kunstanspruch überhoben.