Rodrigo Sorogoyen

Wie wilde Tiere (As Bestas)

Olgas erwachsene Tochter Marie (Marie Colomb) hilft ihrer Mutter und Antoine auf dem Bauernhof. Foto: Prokino
(Kinostart: 7.12.) Don Quijote gegen Windräder: Ein zugewanderter Öko-Bauer legt sich mit den Bewohnern eines nordspanischen Dorfs an – und zahlt einen hohen Preis. Diesen Stadt-Land-Konflikt inszeniert Regisseur Rodrigo Sorogoyen mit beklemmender Intensität; dafür erhielt der Film neun Goyas.

Aloitadores heißen in Nordspanien die Männer, die den Willen wilder Pferde brechen. Gleich zu Beginn sieht man, wie zwei von ihnen gemeinsam ein Tier niederringen. Zeitlupe stilisiert die Szene zum emblematischen Kampf zwischen Mensch und Tier: Muskeln, Schweiß, geschwollene Adern, verzerrte Gesichter – hier sind die Brüder Xan und Lorenzo Anta in ihrem Element.

 

Info

 

Wie wilde Tiere (As Bestas)

 

Regie: Rodrigo Sorogoyen,

137 Min., Spanien/ Frankreich 2022;

mit: Denis Ménochet, Marina Foïs, Luis Zahera

 

Website zum Film

 

Doch diese Szene erscheint wie ein Echo vergangener, besserer Zeiten. Ihr kleines Dorf in Galizien droht zu verwaisen. Meist treiben die Brüder mürrisch Rinder durch die Gegend, misten unter den Augen ihrer Mutter den Stall aus oder hängen in der einzigen Kneipe herum. Zumindest hier hat Xan (Luis Zahre) noch das Sagen. Der ständig missgelaunte ältere Bruder lässt seinen Ansichten in endlosen Monologen freien Lauf. Lorenzo (Diego Anido) büßte einst bei einem Sturz zum Teil seine Geisteskraft ein; er folgt blind ergeben seinem Bruder.

 

Bio-Gemüse + Bauernhof-Restaurierung

 

Bevorzugtes Ziel ihrer Aggressionen ist „der Franzose“: Der ehemalige Lehrer Antoine (Denis Ménochet) und seine Frau Olga (Marina Foïs) sind in das Dorf gezogen, das unter Abwanderung leidet, um dort Bio-Gemüse anzubauen. Nebenbei restaurieren sie verfallene Gebäude, um sie Zuzugswilligen zur freien Verfügung zu überlassen. Sie glauben, dass dieses Tal eine Zukunft hat.

Offizieller Filmtrailer


 

Letzte Verwertungs-Stufe Windpark

 

Doch ihre Vision von Öko-Tourismus und Biolandwirtschaft ist unvereinbar mit dem, was die Antas und fast alle übrigen Dorfbewohner bereits akzeptiert haben. Sie wollen das gesamte Land an einen zusätzlichen Windpark abtreten und mit dem Erlös das Weite suchen – als letzte Stufe im Prozess der Verwertung natürlicher Ressourcen einer abgehängten Region. Dabei sind Windkraftanlagen in der Landschaft bereits omnipräsent.

 

Wenn Antoine im Abendlicht zu den gigantischen Rotoren aufblickt, dürfte in seinem Kopf ein quälendes Fragespiel ablaufen: Ist er nun wie Don Quichotte? Oder nur wie die Windräder ein Fremdkörper in dem Land, auf dem er heimisch werden will? Denis Ménochet spielt ihn als sanften Hünen, der offenbar schon viel im Leben gesehen hat. Eigentlich versteht er es, mit Alpha-Männern umzugehen, doch in Xan scheint er seinen Meister gefunden zu haben. Was immer Antoine versucht, er beißt auf Granit.

 

Batteriesäure vernichtet Tomaten

 

Schritt für Schritt zeichnet der Film die Eskalation des Nachbarschaftskonflikts nach. Immer mehr sehen Olga und Antoine ihre Hoffnungen auf Koexistenz schwinden. Als die Antas ihren Wassertank mit Batteriesäure versuchen und damit die Tomatenernte komplett vernichten, stehen auch sie vor dem wirtschaftlichen Aus. Doch sie wollen sich nicht vertreiben lassen. So kommt es zur unvermeidlichen Entladung von Gewalt, bei der die Brüder in einer beklemmenden Spiegelung der Anfangszene den Zugezogenen im Wald zu Boden ringen und verschwinden lassen.

 

In der zweiten Hälfte des Films schildert Regisseur Rodrigo Sorogoyen die Agonie der Hinterbliebenen, die Gleichgültigkeit ihrer Nachbarn und die Untätigkeit der Behörden. Zum Entsetzen ihrer erwachsenen Tochter weigert sich Olga weiterhin, das Dorf zu verlassen, und sucht die Gegend täglich nach der Leiche ihres Mannes ab.

 

Städter-Arroganz vs. Alteingesessenen-Stolz

 

Ist der erste Teil noch eine meisterhaft inszenierte und gespielte Fallstudie, in der vor allem Männer den Ton angeben, so dürfen im zweiten Teil die weiblichen Figuren sozusagen die Scherben aufkehren. Die verhärteten Fronten zu überwinden gelingt aber auch ihnen nicht. Am Ende gibt es für Olga zwar späte Gerechtigkeit, aber keine Versöhnung.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Milchkrieg in Dalsmynni" − ambitionierter Agrar-Krimi aus Island von Grímur Hákonarson

 

und hier eine Besprechung des Films "Alcarràs – Die letzte Ernte" − Porträt einer spanischen Obstbauern-Familie, die Existenzgrundlage verliert, von Carla Simón; prämiert mit Goldenem Bären 2022 

 

und hier einen Beitrag über den Film "Gegen den Strom" − skurrile isländische Ökothriller-Komödie von Benedikt Erlingson

 

und hier einen Bericht über den Film "Viel Gutes erwartet uns − Good Things Await" − Dokumentation über dänische Bio-Bauern von Phie Ambo.

 

Die kulturelle Kluft zwischen Landeiern und Stadtflüchtigen ist kein uralter Konflikt, sondern ein Produkt der Moderne. Sie hat schon Stoff für zahlreiche Komödien geliefert, aber auch für Fieberfantasien wie den Psychothriller „Wer Gewalt sät“ (1971) von Sam Peckinpah – darin geht es um Rache nach einer Vergewaltigung. Die Protagonisten sind stets gleich: hier so überhebliche wie wohlmeinende Agenten des Fortschritts; dort Alteingesessene, die mit bockigem Stolz alles von außen Kommende abwehren und dabei nichts zu verlieren haben.

 

Bedrückend unmittelbare Gewalt

 

Diese Standards lässt auch Regisseur Rodrigo Sorogoyen anklingen, doch sie erscheinen in ungewohnt existentialistischem Licht – denn das Drehbuch basiert auf einem authentischen Fall aus dem Jahr 2010. Das erlaubt der Inszenierung, eine gewisse Distanz zum Geschehen zu wahren, und gibt der Gewalt, die von Beginn an in der Luft liegt, eine bedrückende Unmittelbarkeit. Nichts wird stilisiert, nichts wird verklärt; dafür wurde „As Bestas“ im Februar mit neun Goyas ausgezeichnet, den höchsten spanischen Filmpreisen.

 

Das Publikum muss sich nicht manipuliert wähnen; stattdessen erhält es die Gelegenheit, sich mitten in ein Konfliktgebiet hineinversetzt zu fühlen. Das funktioniert dank durchgehend überzeugenden Darstellern und einer abweisenden, aber auch wunderschönen Natur. „Es ist eine Landschaft, die dich verschlucken kann“, warnt ein wohlmeinender Nachbar Antoine – nicht ahnend, dass er damit eine Prophezeiung ausspricht. Die Figur, die Olga als Vorbild diente, ist heute die letzte Bewohnerin des Dorfes.