Hayao Miyazaki

Der Junge und der Reiher

Der Reiher (links) bittet in den Palast. Foto: © Studio Ghibli 2023/ ohe
(Kinostart: 4.1.) Fantasy zur Conditio humana: Hayao Miyazaki, der japanische Disney, erzählt eine Coming-of-Age-Story über einen Jungen, der um seine Mutter trauert – als Wandler zwischen zwei Welten mit brillanten Bildern voller überbordender Fantasie. Ein West-Ost-Crossover im prekären Gleichgewicht.

Der japanische Animationsfilmer Hayao Miyazaki, geboren 1941, hat eine einzigartige Handschrift. Animationsfilme seines legendären Ghibli-Studios erkennt man sofort: Seine großäugigen, ausdrucksstarken Figuren haben sehr klare Konturen, die Bilder übergroßen Detailreichtum mit oftmals leuchtenden Farben in sehr intensivem Licht. Schönes und Grauenhaftes liegen oft nah beieinander, so auch diesmal.

 

Info

 

Der Junge und der Reiher

 

Regie: Hayao Miyazaki,

124 Min., Japan 2023;

 

Weitere Informationen zum Film

 

„Der Junge und der Reiher“ beginnt mit einer Feuersbrunst in Tokio während des Zweiten Weltkriegs. Bei einem durch einen Angriff ausgelösten Großbrand kommt die Mutter des elfjährigen Mahito ums Leben. Daraufhin wird der Junge zu seinem Vater in eine abgelegene Gegend geschickt. Doch nach dem Tod seiner Mutter fühlt sich der Junge in der ländlichen Umgebung einsam und verloren.

 

Papa leitet Flugzeugwerk

 

Sein Vater – zwar wohlmeinend, aber auch distanziert und als Direktor eines Flugzeugwerks vielbeschäftigt – hat kaum Zeit für ihn. Offenbar hat er sich über den Tod seiner Gattin schnell mit einer neuen Frau getröstet, die auch schon schwanger ist. Diese Natsuko bemüht sich liebevoll um den trauernden Jungen.

Offizieller Filmtrailer


 

Einbruch der Fantastik in Realität

 

In der neuen Schule findet Mahito keinen Anschluss; er wird gemobbt. Lieber streift er auf dem Landsitz umher, der sich inmitten von üppiger Natur befindet. Dabei stößt er auch auf einen mysteriösen, verlassenen Turm, der angeblich vom Onkel seiner Stiefmutter erbaut worden ist. Dieser verwunschene Turm entpuppt sich als Eingang zu einer anderen Welt; wie in vielen anderen Filmen Miyazakis bricht damit auch das Fantastische in die Realität ein. Ein seltsamer Reiher-Mensch wird zum Begleiter des Jungen in der Welt der Toten und Ungeborenen.

 

Von nun an schlägt die Handlung wilde Haken. Man hat mitunter Schwierigkeiten, zu verstehen, wo man gerade ist und welche Figur einem jetzt gegenübertritt – zumal sich deren Erscheinungsformen öfter verändern. Doch es ist auch gerade das überbordend Schrankenlose, das an Miyazakis Filmen fasziniert. Mit ihnen spricht der Filmemacher ein großes Publikum an. Kinder und Jugendliche haben Spaß an der fantastischen Geschichte, dem eigenwilligen Humor und den imaginativen Bildwelten; an Erwachsene richtet sich eine eher philosophische Ebene, die stets mitschwingt.

 

Fusion-Food aus Asien + Europa

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Sirene" – farbensatter Animationsfilm über den Irak-Iran-Krieg von Sepideh Farsi

 

und hier eine Besprechung des Films "Inu-Oh" – fesselnder Anime-Crashkurs in japanischer Geschichte von Masaaki Yuasa

 

und hier einen Beitrag über den Film “Wie der Wind sich hebt” – grandioser Animations-Historienfilm über die Zwischenkriegszeit in Japan von Hayao Miyazaki

 

und hier einen Bericht über den Film "Die rote Schildkröte" – minimalistischer Fantasy-Animationsfilm über Robinson-Crusoe-Mythos von Michael Dudok de Wit.

 

Mahito begegnet auf seiner gefährlichen Reise durch diese Welt allerlei fantastischen Gestalten: einer Fischerin, die Tote mit Essen versorgt, einem tapferen Mädchen, welches das Feuer beherrscht, einem totalitären Sittich-König, Pelikanen, die ungeborene Seelen fressen und einem Weltenschöpfer mit wildem grauen Haar und stechendem Blick. Dabei fusioniert Miyazaki verschiedenste Motive: Ein traditionelles japanisches Haus steht neben einem Haus im westlichen Stil, Figuren tragen sowohl asiatische als auch europäische Züge. Gegessen wird alles, was Speisepläne beider Welten zu bieten haben.

 

Viele autobiografische Bezüge stecken in diesem Werk, an dem das Ghibli-Team sieben anstelle der ursprünglich geplanten drei Jahre gearbeitet hat. Bereits im Vorgängerfilm „Wie der Wind sich hebt“ (2013) wird die Verbindung der Miyazaki-Familie zur Produktion von Kriegsflugzeugen offengelegt. Miyazakis Mutter starb zwar nicht früh, war aber in seiner Kindheit durch Tuberkulose ans Bett gefesselt. Und der japanische Original-Titel des Films bezieht sich auf einen Jugendroman-Klassiker namens: „Wie lebst Du?“.

 

Nichts ist ewig + stirbt endgültig

 

Ähnlich wie dieser reflektiert auch der Film über die conditio humana, Tod, Verlust und Neuanfang. Alles ist ständig in Veränderung begriffen. Welten entstehen und vergehen, ihr Gleichgewicht ist prekär. Nichts bleibt ewig bestehen, aber auch nichts stirbt endgültig; ein sehr tröstlicher Gedanke, der anschlussfähig an viele Religionen und Weltanschauungen ist. So versucht „Der Junge und der Reiher“ sich an einer Zusammenschau der Grundbedingungen menschlicher Existenz – eine Seltenheit für einen Animationsfilm.