Der Tod des langjährigen Lebenspartners kann einem Mensch gehörig das Gemüt verwirren, aber so sehr? Kaum ist ihr Mann Hristo verstorben, wird die pensionierte Lehrerin Blaga Naumova (Eli Skorcheva) Opfer von Telefonbetrug. Ein Unbekannter ruft sie an, gibt sich als Kommissar aus und befiehlt ihr, in der Wohnung aufbewahrte Ersparnisse in einer Plastiktüte vom Balkon zu werfen; mit diesem Köder wolle die Polizei Gangster fassen. Und was macht Blaga? Sie packt bündelweise Bargeld in eine Tüte und schleudert diese über die Brüstung.
Info
Eine Frage der Würde
(Blaga's Lessons)
Regie: Stephan Komandarev,
119 Min., Bulgarien/ Deutschland 2023;
mit: Eli Skorcheva, Ivan Barnev, Gerasim Georgiev
Weitere Informationen zum Film
Zehn Prozent Provision für Maultier
If you can’t beat them, join them: Also will die Betrogene von ihren Betrügern profitieren. Mit Hilfe ihrer einzigen Privatschülerin – einer Karabach-Armenierin, der sie Bulgarisch beibringt, damit diese eingebürgert werden kann – gibt sie eine Anzeige im Internet auf: Bin flexibel und habe Auto. Flugs heuern die Telefonbetrüger sie als so genanntes Maultier an; sie muss die Geldtüten einsammeln und zur Übergabestelle bringen. Dafür darf sie zehn Prozent behalten. Selbstredend geht bald etwas schief, Blaga steckt den gesamten Betrag ein, und die Lage eskaliert.
Offizieller Filmtrailer OmU
Furor der dröhnenden Anklage
Das klingt nach an den Haaren herbeigezogener Krimi-Kolportage, doch Stephan Komandarev hat diesen Stoff tatsächlich verfilmt. In den elf Spielfilmen des bulgarischen Regisseurs geht es häufig um Geldnot, Perspektivlosigkeit und Kleinkriminalität, aber bislang kaum so holzschnittartig wie in „Blaga’s Lessons“. Trotz gräulicher Bilder und eisig unterkühlter Atmosphäre, in der Dialoge mehr ausgespuckt als gesprochen werden, merkt man jeder Szene Komandarevs moralischen Furor an: Er will Verarmung und Entrechtung sozial Schwacher dröhnend anklagen. Da würden subtile Charakterzeichnung oder ein plausibler Plot nur stören.
In Komandarevs heutigem Bulgarien mutet das Meiste hanebüchen an. Der Friedhofswärter schachert mit Grabstellen wie ein Immobilienspekulant. Mit wenigen telefonischen Kommandos überreden Verbrecher reihenweise Rentner, ihre Spargroschen vor Müllcontainern zu deponieren. Kaum hat Blaga ein Stellengesuch im Internet platziert, wird sie von den Halunken als Hilfskraft engagiert. Ohne sie je gesehen zu haben, vertrauen die Banditen Blaga Kurierfahrten mit viel Bargeld an. Wobei sich die Pensionärin, die sich anfangs so trottelig anstellte, plötzlich als gerissen und skrupellos erweist.
Missmutige alte Schachtel
Zwar waren nach dem Zusammenbruch des Ostblocks viele Bewohner Osteuropas und der früheren Sowjetunion so orientierungslos, dass sie diversen Betrügermaschen aufsaßen; etwa dem MMM-Schneeballsystem in Russland, das 1994 rund 10 Millionen Anleger schröpfte. Doch mehr als drei Jahrzehnte später, in einem EU-Mitgliedsland?
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Judgment - Grenze der Hoffnung" – episches Flüchtlingsdrama in Bulgarien von Stephan Komandarev
und hier eine Besprechung des Films "Tilt" – Liebesgeschichte im Post-Wende-Bulgarien von Viktor Chouchkov Jr.
und hier einen Beitrag über den Film "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" – doppelbödiges Vergangenheits-Bewältigungsdrama aus Rumänien von Radu Jude.
Ethischer splatter movie ohne Blut
Aus der Plattenbau-Tristesse, in der sich der Film bewegt, führt kaum ein Abstecher hinaus – und wenn, dann geradewegs zu klebrig nationalistischer Symbolik. Schumen liegt nahe der einstigen Hauptstadt des ersten bulgarischen Reiches im 7. Jahrhundert. Zur Feier von 1300 Jahre Bulgarien wurde 1981 auf einem Hügel oberhalb von Schumen ein monströses Denkmal errichtet; Beton-Brutalismus vom Brachialsten. Mehrfach steigt Blaga die 1300 Treppenstufen empor, kehrt aber stets um. Erst als sie die Betrüger seinerseits betrogen hat, schafft sie es bis nach oben.
Dazu kommt am Ende eine so unwahrscheinliche wie abgefeimte Schlusspointe, die der einzigen sympathischen Nebenfigur den Garaus macht. Womit Regisseur Komandarev ein Paradox gelingt: seinen Holzhammer-Moralismus als Westentaschen-Nihilismus zu tarnen – gleichsam als ethischen splatter movie, bei dem kaum ein Tropfen Blut fließt.