Berlin

Warten auf Tricia Tuttle

Regisseurin Mati Diop, Gewinnerin des Goldenen Bären für "Dahomey". Foto: Berlinale
Ende eines Fünf-Jahres-Plans: Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek haben den Festspielen jede Lebendigkeit ausgetrieben. Die Profillosigkeit ihrer „Encounters“-Erfindung greift auf den Wettbewerb über. Dazu passt der Goldene Bär für die 67-Minuten-Doku „Dahomey“ über die Rückgabe kolonialer Raubkunst.

Down to the ground: Finanzanalysten sprechen von Bodenbildung, wenn ein Aktienkurs tief gesunken ist und bis auf Weiteres dort verharren wird. Diesen Punkt hat die systematisch heruntergewirtschaftete Berlinale inzwischen erreicht: Ihr Renommee ist derart niedrig, dass keiner der sechs deutschen Autohersteller von Weltrang freiwillig den „VIP-Shuttle“-Fahrdienst übernimmt. Also springt der Beförderungs-Dienstleister Uber ein; dessen Reputation ist offenbar so schlecht, dass er sich selbst von Berlinale-Sponsoring noch einen Prestigegewinn verspricht.

 

Info

 

74. Berlinale

 

15.02. - 25.02.2024

in diversen Spielstätten, Berlin

 

Website des Festivals

 

So sieht das Vermächtnis von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek aus, die nach fünf Festival-Ausgaben nolens volens abtreten. Sie haben es fertig gebracht, den Festspielen jede Lebendigkeit auszutreiben. Vor allem durch die fatale Entscheidung, die anfangs durch Corona bedingte Schließung der Schalterkassen zu verstetigen. Ob Branchenakteure, Medienleute oder normale Besucher: Alle können Eintrittskarten nur noch online kaufen. Das mag nebensächlich klingen, ist es aber nicht.

 

Kassenbereich war Herz des Festivals

 

Seit dem Umzug an den Potsdamer Platz im Jahr 2000 waren die Ticket-Kassen in den „Potsdamer Platz Arkaden“ das pulsierende Herz des Festivals. Vor den Schaltern standen den ganzen Tag lang Schlangen von Kaufwilligen; sie verfolgten gespannt Monitor-Anzeigen in Echtzeit, welche Karten noch verfügbar waren. Daneben studierten Filmfreunde auf Sitzgruppen das Festivalprogramm. Oder sie gaben soeben ergatterte Tickets weiter und tauschten Tipps aus, welche Filme lohnten. Mit einem Wort: Hier war immer viel los, waren die Festspiele ganz bei sich.

Pressekonferenz zum Film "Dahomey" , Gewinner des Goldenen Bären; ab 15:57. ©: Berlinale


 

Optimierte Saal-Auslastung klappt nicht

 

Vorbei: Von einer „Food Court“-Fressmeile abgesehen, sind die Arkaden praktisch ausgestorben – die Kassen fehlen, die meisten Läden hat eine benachbarte Mall am Leipziger Platz vertrieben. Draußen huschen die Besucher mit ihren Online-Tickets eilig in die Kinos und ebenso rasch wieder heraus. Selbst am – absurd weiträumig abgesperrten – Berlinale-Palast und in der Nebenstraße, aus der Limousinen mit Stars – sofern noch welche kommen – vorfahren, gibt es kaum Schaulustige. Dem weltgrößten Publikumsfestival fehlt menschliche Präsenz.

 

Der Internet-only-Vertrieb wird damit gerechtfertigt, dass sich so die Auslastung der Säle optimieren lasse. Denn: Die Aufteilung von Karten-Kontingenten unter verschiedene Gruppen wie Fachbesucher, Presse, Verleiher und nicht zuletzt Kinofans ist kompliziert – und ein Geschäftsgeheimnis der Berlinale-Leitung. Bloß: Die Optimierung klappt nicht. In etlichen Vorstellungen, die tagelang vorher ausverkauft waren, blieben wie eh und je fünf bis zehn Prozent der Sitze frei. Früher wurden Restkarten einfach an der Abendkasse abgegeben. Doch die notorisch klamme Berlinale spart sich wohl auch die Löhne für das Kassenpersonal.

 

Kartenkäufer als Almosenempfänger

 

Daher verteidigt die Leitung das E-Ticket-Verfahren mit dem Argument, nicht alle Karten würden auf einen Schlag feilgeboten – so dass populäre Filme in wenigen Minuten ausverkauft sind – sondern peu à peu elektronisch freigegeben. Nur: Keiner weiß, wann und wie viele. Kartenkauf wird zum Lotteriespiel; Big Brother is supplying you. Der Zuschauer als unmündiger Almosenempfänger.

 

Was offenkundig – und dies ist das größte Mysterium der Berlinale – Hunderttausende nicht abschreckt; die Säle sind meist zu 90 Prozent gefüllt. Trotz aller Minuspunkte geben Scharen von Besuchern gern 15 Euro pro Vorstellung aus, um sich einen unbekannten Film anzusehen, der ihnen häufig nicht gefallen wird.

 

„Encounters“ war größter Fauxpas

 

Diese Leidensbereitschaft lässt sich wohl am ehesten mit dem unverwüstlichen Freak-Image der Hauptstadt erklären, die Raum für Schrägheiten aller Art bietet. In Berlin finden queere Mammut-Autorenlesungen und brachiale Noisecore-Konzerte ja gleichfalls dankbare Zuhörer. Oder die Berlinale ist schlichtweg zum Pflichttermin im Event-Kalender der Republik geworden, wie die Kieler Woche und das Oktoberfest. Die ziehen trotz magerer Aufenthaltsqualität auch alljährlich Millionen an.

 

Diese anything goes-Atmosphäre dürfte Chatrian und Rissenbeek zu ihrem erratischen Kurs seit 2020 verleitet haben: Die Berlinale scheint ein Selbstläufer zu sein, mit dem jeder machen kann, was er will. Also führten sie Novitäten ein, die niemand braucht, schreckten aber vor dringend nötigen Reformen zurück. Ihr größter Fauxpas war die Einführung des zweiten Wettbewerbs „Encounters“: In dieser Reihe sollten irgendwie ambitionierte und gewagte Produktionen mehr Beachtung finden und überdies Preise einheimsen können. Dabei tummeln sich mittlerweile auch im Wettbewerb vor allem exzentrische Außenseiter – in diesem Jahr waren Andreas Dresen und Olivier Assayas die beiden einzigen bekannten Regisseure.

 

Aus für „Perspektive Deutsches Kino“

 

Das Kalkül ging selbst im fünften Anlauf nicht auf. Entweder sind „Encounters“-Filme tatsächlich preiswürdig; dann gehören sie in den Wettbewerb. Oder sie sind es nicht; dann fände sich unter den übrigen elf Berlinale-Sektionen bestimmt eine geeignete, um sie dort vorzuführen. In fünf Jahren hat kein „Encounters“-Kandidat nach dem Festival für nennenswertes Aufsehen in der übrigen Filmwelt oder an der Kinokasse gesorgt.

 

Apropos Sektionen: Den unübersichtlichen Wildwuchs, den ihr Vorgänger Dieter Kosslick 18 Jahre lang sprießen ließ, hat das Leitungs-Duo nur halbherzig gelichtet. Zwar wurde der Jungfilmer-Talentschuppen „Perspektive Deutsches Kino“ endlich abgeschafft. Doch dessen Chefin Jenni Zylka, eine politisch überkorrekte Pop-Journalistin, amtiert weiter als „sektionsübergreifende Schnittstelle für deutsche Nachwuchsfilme und Filmhochschulprojekte“, was immer das sein soll.

 

Erfolgreiche „Generation“ für U18

 

An den Nachwuchs richtet sich auch „Berlinale Talents“, eine Diskussions-Reihe rund ums Kino im Theater „Hebbel am Ufer“ – aber nur noch diskret als Parallel-Veranstaltung gelistet. Dagegen bleibt das unsäglich prätentiöse „Forum Expanded“ mit sperriger Videokunst für Eierköpfe ebenso Teil des offiziellen Programms wie „Berlinale Classics“: ein wilder Mix von zehn Filmen aus neun Dekaden, die nur gemeinsam haben, dass sie jüngst digital restauriert worden sind.

 

Vielleicht ist es längst sinnlos geworden, bei einem Angebot von knapp 400 Filmen von EINEM Festival zu sprechen, zumal die Sektionen immer weiter auseinander driften. Von der Öffentlichkeit wenig beachtet, hat sich die „Generation“ zu einem der renommiertesten Schaufenster für Kinder- und Jugendfilme gemausert. Schulklassenweise strömt das minderjährige Publikum herbei und bejubelt Werke mit Darstellern seiner Altersgruppe in Werken voller lebensnaher Themen – Knirpse kann man nicht mit vertrackten Kopfgeburten ködern.

 

Eindrucksvolles Forum, profilloses Panorama

 

Unter der neuen Leitung von Barbara Wurm hat das traditionsreiche „Forum“ – es wurde 1971 begründet – den zweifelhaften Ruf abgestreift, eine Resterampe für schwer Verdauliches zu sein. Hier liefen eindrucksvolle Filme, etwa die Biopics „Maria’s Silence“ über einen deutsch-lettischen Filmstar, der 1937 Opfer stalinistischer Repression wurde, und „Chroniques fidèles…“ über Frantz Fanon als Arzt in der algerischen Psychatrie 1953/6. Hierzulande kaum bekannt, gilt Fanon als bedeutendster Antikolonialismus-Vordenker. Warum, zeigt dieser Film: Aufklärung im besten Sinne.

 

Das beste, was sich über das „Panorama“ sagen läst, ist: Es dient nicht mehr als Abspielstation für LGBTQI-Fingerübungen, wozu Ex-Leiter Wieland Speck es verdonnert hatte. Sieben Jahre nach seinem Abgang ist die Sektion weitgehend in die Cis-Normalität zurückgekehrt, hat aber noch kein neues Profil gefunden. Zumal Spektakuläres doch weiter schwulllesbisch konnotiert ist; etwa der queere Arthouse-Softporno „The Visitor“, ein Remake von Pasolinis Klassiker „Teorema“.

 

Wettbewerb als Rauswurf-Racheakt

 

Ähnlich profillos erschien der Wettbewerb; so eklatant, dass manche ulkten, die krude Zusammenstellung sei Chatrians Racheakt für seinen De-facto-Rauswurf. Wenn überhaupt, ließ sich den 20 disparaten Kandidaten höchstens eine Tendenz ablesen: eine mäßig originelle Grundidee mit plakativen, gelackten Bildern aufzublasen. Das entspricht Chatrians Bekenntnis zu „Bildern wie Bäume, die dem Sturm trotzen. Angesichts der stillen Tragödie der Bilder ohne Substanz, der aus dem Nichts erschaffenen Zahlen und Fakten, der manipulierten Töne sind die Bilder, die das Festival zeigt, so kostbar wie ein Wald, der zu sterben droht“.

 

Kino als Reservat gegen Artenschwund, dessen Bilder auszeichnet, dass sie bigger than smartphone displays sind. Dieses cinephile Pathos beglaubigten dann Filme wie „Shambhala“, der erste je im Wettbewerb gezeigte Film aus Nepal, oder „Mé el Ain“ aus Tunesien. In beiden ging es um Verwandten-Verlust – Gatte bzw. Sohn –, und beide Male fing die Kamera eine gefühlte Ewigkeit lang in Nahaufnahmen ein, wie Laiendarstellerinnen als Ehefrau bzw. Mutter stumm leiden. Für Betroffene wohl ergreifend, aber nicht gerade ausdrucksstark.

 

Im Off krächzende Königsstatue

 

Wobei der tunesische einer von zweieinhalb Beiträgen aus Afrika war; weit mehr als sonst in der Konkurrenz. Überdies mit hochpolierten Bildern: „Black Tea“ lässt eine Heiratsunwillige aus der Elfenbeinküste in Taiwan landen, wo sie im Nu in perfektem Mandarin mit einem Teeladenbesitzer anbandelt. Wie dieser Multikulti-Migrations-Kitsch schwelgt auch „Dahomey“ in Hochglanz-Optik – aber mit kontroverser Thematik.

 

2017 hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angekündigt, afrikanische Kunstwerke an ihre Ursprungsländer zurückzugeben. Die Restitution von 26 Spitzenstücken an Benin dokumentiert die senegalesische Regisseurin Mati Diop geduldig, denn der Abtransport von Großskulpturen ist eine nüchterne und langwierige Sache. Damit sie nicht zu öde wird, lässt Diop eine Königsstatue im Off krächzend über ihr Geschick räsonnieren. Verständlicher klingen die Stimmen von Studenten in Benin, die eine Viertelstunde lang über die Rückgabe diskutieren: Einige sind zufrieden, andere fordern mehr.

 

Neues Sujet Raubkunst-Rückgabe

 

Dafür erhielt „Dahomey“ den Goldenen Bären. Vermutlich nicht, weil die 67 Minuten lange Doku tatsächlich als bester Film im Wettbewerb daherkam; das wäre abwegig. Sondern weil sie ein Sujet aufgreift, das die Berlinale – die sich rühmt, ein „politisches Festival“ zu sein – noch nicht im Portfolio hatte: die Rückgabe von Raub- und Beutekunst an ehemalige Kolonien. Wie diskussionsfreudig die Festspiele wirklich sind, zeigte sich bei der Preisvergabe-Gala: Als mehrere Geehrte sich in ihren Dankesreden pro-palästinensisch äußerten, wurden sie im Saal bejubelt. Anstatt das als Denkanstoß zu begreifen, wie international isoliert Deutschland mit seiner unverbrüchlichen Israel-Treue mittlerweile ist, forderten diverse Bundes- und Landespolitiker eilends drastische Gegenmaßnahmen. Kunstfreiheit genießt, was im Koalitionsvertrag steht.

 

Das spielte gottlob keine Rolle bei den Silbernen Bären. Der „Große Preis der Jury“, quasi die Silbermedaille, ging an Hong Sangsoo. Der koreanische Stammgast scheint übernatürliche Kräfte zu haben: Er ist nahezu jedes Jahr im Wettbewerb vertreten und wird fast immer mit Preisen bedacht, obwohl diesmal „A Traveler’s Needs“ mit Isabelle Huppert bei der Kritik durchfiel. Mehr Anklang fand die Science-Fiction-Groteske „L’Empire“ von Bruno Dumont. Der Dada-Anarchist des französischen Autorenkinos lässt in einem Fischerdorf eine Weltraum-Schlacht ausbrechen – dafür gab es den „Preis der Jury“.

 

Regisseure flüchten in die Tierwelt

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier die Festival-Bilanz der 73. Berlinale 2023: "Zeit für Schwarmintelligenz"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 72. Berlinale 2022: "Halbherziges Gesundschrumpfen"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 71. Berlinale 2021: "Phantom-Festival der Anti-Ästhetik"

 

Ein Augenschmaus für Tierfreunde war „Pepe“ von Nelson Carlos De Los Santos Arias, für die beste Regie prämiert: Sein Held ist ein Nilpferd, das von Afrika nach Kolumbien verfrachtet wird. Ohnehin wandten sich in diesem Jahr etliche Filme der Tierwelt zu und machten Katzen, Fische oder Zoo-Insassen zu Hauptdarstellern; Regisseure, denen zum Allzumenschlichen nichts mehr einfällt, suchen ihr Heil in der Fauna.

 

Morbide wirkten die Preisträger, die für das beste Drehbuch und die „beste künstlerische Leistung“ ausgezeichnet wurden: Sowohl „Sterben“ von Matthias Glasner als auch „Des Teufels Bad“ des Regie-Duos Franz und Fiala beleuchten ausgiebig den Exitus. Alles nicht so arg: Abgesehen von den beiden letzten – eine deutsche und eine österreichische Produktion – dürften die Preisträgerfilme kaum regulär in hiesige Kinos kommen.

 

Mach es besser, Tricia Tuttle!

 

Macht nichts. Jeder Börsenexperte weiß, dass nach jeder Baisse irgendwann die Kurse wieder steigen werden. Im Fall der Festspiele bedeutet das: weniger Beliebigkeit, mehr prominente Akteure mit attraktiven Großproduktionen, größere Publikumsnähe und eventuell sogar wieder quirliges Leben am Potsdamer Platz. Vieles davon gelang Tricia Tuttle, als sie 2018 bis 2022 das „London Film Festival“ leitete. Ähnliches wird nun von ihr erhofft, sobald sie im April ihren neuen Job als Berlinale-Intendantin antritt. Es kann nur besser werden.