Thomas Karrer + Karin Bucher

Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh

Auch in Chandigarh gibt es Schreiber, die in der Öffentlichkeit ihre Dienste anbieten - z.B. Dokumente auf Englisch zu tippen. Foto: © Copyright: Karrer Multivision. Fotoquelle: Real Fiction
(Kinostart: 22.2.) Eine Modellstadt aus Betonbauten mitten in Nordindien: Das ist Chandigarh. Dort konnte Le Corbusier, Prophet der Architektur-Moderne, seine Visionen verwirklichen. Die Doku des Regie-Duos Karrer und Bucher setzt allerdings mehr auf Impressionen als auf Erläuterungen seiner Bauweise.

“Gibst Du mir Wasser, rühr ich den Kalk: Wir bauen eine neue Stadt” trällerte die 1981 die Dada-NDW-Band “Palais Schaumburg”: Nie wurden so viele Städte neu gegründet – oder Dörfer zu solchen ausgebaut – wie in den letzten 100 Jahren. Auch Hauptstädte: Canberra in Australien 1927, Brasilia 1960, Abuja in Nigeria 1991, Astana in Kasachstan 1998 oder Naypyidaw in Myanmar 2005 sind prominente Beispiele dafür. In Indonesien wird derzeit auf Borneo eine neue Kapitale namens Nusantara errichtet, in der einmal zwei Millionen Menschen leben sollen.

 

Info

 

Kraft der Utopie – Leben mit
Le Corbusier in Chandigarh

 

Regie: Thomas Karrer + Karin Bucher,

84 Min., Indien/ Schweiz 2023

 

Weitere Informationen zum Film

 

Meist wird ihr Bau damit begründet, dass die bisherige Hauptstadt ungünstig gelegen, übervölkert oder schlicht zu groß geworden sei. Dazu kommt: Regierungssitze vom Reißbrett lassen sich von den Machthabern leichter kontrollieren. Ihr Nachteil ist häufig eine schleppende, einseitige Stadtentwicklung: Solche Planhauptstädte mit Quartieren für Scharen von Beamten sprühen nicht gerade vor Lebendigkeit – weswegen Normalbürger oft kaum zu bewegen sind, dorthin zu ziehen.

 

Alte Hauptstadt liegt in Pakistan

 

Dass Haupt- als Modellstädte gebaut werden, um neue urbanistische Konzepte umzusetzen, kommt selten vor. Eine solche Ausnahme ist Chandigarh, die Hauptstadt der beiden indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana. Ihr Bau wurde nötig, weil bei der Teilung des Subkontinents 1947 Lahore als bisherige Kapitale des Punjab an Pakistan fiel; so musste eine neue Regionalhauptstadt her. Im zweiten Anlauf ging der Auftrag zur Stadtplanung an Le Corbusier, der seinen Cousin Pierre Jeanneret (1897-1967) rekrutierte. Zudem war ein britisches Architekten-Paar beteiligt.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Annäherung mit Touristen-Blick

 

Für Le Corbusier (1887-1965), den so verehrten wie kritisch beäugten Propagandisten modernistischer Architektur, war es die Chance zur Krönung seines Lebenswerks: Eine ganze Stadt nach seinen Vorstellungen errichten zu lassen, entsprach seinem Hang zum Gesamtkunstwerk. Obwohl er nur etwa zwei Mal pro Jahr für ein paar Wochen nach Chandigarh kam, um den Stand der Dinge zu begutachten, wie Zeitzeugen berichten. Detailplanung und Bauaufsicht überließ er seinem Cousin, der 15 Jahre vor Ort lebte. 1952 begann die erste Bauphase, 1966 eine zweite, 1991 die dritte.

 

Der gut 70 Jahre alten Modellstadt nähern sich die schweizerischen Filmemacher Thomas Karrer und Karin Bucher aus touristischer Perspektive: Straßentheater vor einem Kino, Spaziergang am Ufer des künstlichen Sees, Flanieren im Park. Ihr Interesse gilt der Stadt als “Labor für ein neues Zusammenleben”. Was mit Blick auf ihr bisheriges Schaffen nicht verwundert: Frühere Dokus des Duos behandelten Themen wie “Musiktherapie – Im Rhythmus des Lebens” (2023) oder “Zwischenwelten – Unterschiedliche Wege des Heilens” (2020).

 

“Capitol Complex” als Wahrzeichen

 

Also lassen sie ausführlich Bewohner die Lebensqualität in der Stadt preisen. Der Schauspieler G.S. Channi rühmt ihren freiheitlichen Geist, der Menschen von überall her anziehe. Die Architektin Deepika Gandhi, die das “Le Corbusier Centre” leitet, schwärmt von der gelungenen Einbindung der Natur: Ein schmaler Park namens “Leisure Valley” durchzieht die halbe Innenstadt. Und das Faktotum Narinder Singh International, Beamter im Ruhestand, bietet Fremden täglich Gratis-Führungen durch die Straßen an.

 

So plätschert die erste halbe Stunde freundlich dahin, als sei sie ein von der Stadtregierung bestellter Imagefilm. Dann kommen Karrer und Bucher endlich auf die urbanistischen und architektonischen Eigenheiten der Stadt zu sprechen. Etwa den “Capitol Complex” im Osten der Innenstadt mit Oberstem Gericht, Parlament und Verwaltungszentrale: Le Corbusier entwarf sie in dem exzentrisch-brutalistischem Stil mit rohen Beton-Fassaden, für den er berühmt-berüchtigt ist.

 

Gericht auf Zehn-Franken-Schein

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "bau1haus – Die Moderne in der Welt" facettenreiche Fotoschau zu Modernismus-Architektur von Jean Molitor in Berlin, Chemnitz + München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Lina Bo Bardi 100 – Brasiliens alternativer Weg in die Moderne" - erste deutsche Werkschau der Architektin des International Style in der Pinakothek der Moderne, München

 

und hier einen Bericht über den Film "Kevin Roche: Der stille Architekt" Porträt des Modernisten und Pritzker-Preisträgers 1982 von Mark Noonan

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Radikal Modern: Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre" umfassende Überblicks-Schau in der Berlinischen Galerie.

 

Obwohl seit 2016 Unesco-Weltkulturerbe, ist der Komplex seit einem Selbstmordattentat 1995 für Normalbürger geschlossen; nur geführte Gruppen haben Zutritt. Diese Abkapselung der Machtorgane beklagen die Gesprächspartner. Dennoch erfüllt sie mit Stolz, dass die Rasterstruktur der Gerichts-Fassade zeitweise den Zehn-Franken-Geldschein zierte – als Würdigung des gebürtigen Schweizers Le Corbusier.

 

Seine Aufteilung der Innenstadt in Sektoren mit abgestuftem Straßensystem hat bis heute Bestand. Ein von ihm formuliertes “Edikt von Chandigarh” verbietet seit 1952 substantielle Änderungen, sogar das Fällen von Bäumen. Andererseits werde die Stadt dadurch “immer mehr zu einem Museum”, bedauert Siddhartha Wig, Dozent an der lokalen Architekturhochschule: Während das Zentrum sich nicht weiter entwickele, wucherten an den Rändern Satellitensiedlungen. Einst für 500.000 Einwohner geplant, wohnen nun anderthalb Millionen in und um die Stadt.

 

Nur löchrige Trennwände erläutert

 

In sozialer Segregation: Nahe des “Capitol Complex” liegen die Villenviertel, weiter westlich kleinbürgerliche Quartiere. Was ihre spezifische Bauweise ausmacht, thematisiert das Regie-Duo kaum. Zwar fährt die Kamera oft an originellen Fassaden und Innenräumen entlang, doch was man da sieht, bleibt unerläutert. Nur einmal wird auf löchrige Trennwände aus Ziegeln hingewiesen: Sie halten das stechende Sonnenlicht ab, lassen aber kühlende Luftzüge durch.

 

Solche Erklärungen von Grundrissen, Bauweise und Inneneinrichtungen, die Le Corbusiers Handschrift ausmachen, würde man gern mehr hören. Doch Karrer und Bucher interessiert Architektur sensu strictu offenbar wenig. Da hilft nur, in Bildbänden zu schmökern oder selbst hin zu reisen.