
In der Pädagogik ist der Name Maria Montessori heutzutage eine etablierte Größe. Weltweit schicken Eltern ihre Kinder auf die nach ihr benannten Schulen, wo ein von ihr entwickeltes Erziehungsprinzip praktiziert wird. Dieses stellt das Kind als „Baumeister seiner selbst“ in den Mittelpunkt. Da erstaunt, dass bisher noch niemand ernsthaft der Biografie seiner Erfinderin einen Film gewidmet hat, denn ihr Leben ist reich an erlebter Zeitgeschichte.
Info
Maria Montessori
Regie: Léa Todorov,
100 Min., Frankreich/ Italien 2023;
mit: Jasmine Trinca, Leïla Bekhti, Raffaele Esposito, Rafaelle Sonneville-Caby
Weitere Informationen zum Film
Eigenes Kind wird zurückgelassen
Um das Jahr 1900 arbeitet die junge Maria Montessori (Jasmine Trinca) nach dem Studium an einer Schule für geistig Behinderte in Rom. Um dort mit vollem Einsatz wirken zu können, lässt sie ihren neugeborenen Sohn Mario notgedrungen bei einer Pflegefamilie auf dem Land. Als unverheiratete Frau hätte sie im erzkonservativen Italien sonst keine Karrierechance. Sie will unabhängig bleiben und etwas bewirken als moderne „Neue Frau“ – so der damalige Begriff für gut ausgebildete Frauen, egal in welchem Beruf.
Offizieller Filmtrailer
Förderung durch Liebe
Von ihrer Liaison mit ihrem Arztkollegen Giuseppe Montesano (Raffaele Esposito) und dem gemeinsamen Sohn darf aber zur Wahrung ihres guten Rufs niemand wissen. Während das Kind also bis zur Findung einer besseren Lösung bei Fremden aufwachsen muss, kümmert sie sich mit Hingabe um die Bildung ihrer Schützlinge. Ihr Credo ist, die Schüler mit Liebe zu fördern und anzuleiten – und nicht, wie damals üblich, mit Zwang und Schlägen.
Auf Empfehlung bringt auch die Pariser Kurtisane Lili (Leïla Bekhti) ihre bisher bei deren Großmutter untergebrachte Tochter Tina (Rafaelle Sonneville-Caby) zu Montessoris Einrichtung. Nach eingehenden Tests wird das Mädchen als Tagesschülerin angenommen und macht schnell Fortschritte im gesellschaftlichen Umgang und in der bisher nicht vorhandenen Beziehung zu ihrer Mutter. Während diese beiden sich einander annähern, versucht Maria erfolglos, auch ihren Sohn näher zu sich zu holen.
Die Hindernisse der Männerwelt
Auf die einfachste Lösung, eine Heirat mit dem Kindsvater, verzichtet sie aber vehement. Sie möchte niemandes Eigentum sein und für ihre eigene Leistung anerkannt werden. Wie schwierig das ist, demonstriert eine Sequenz, in der die Schüler am Ende des Schuljahres einer Kommission vorgeführt werden, die über den Weiterbestand der Schule entscheiden soll. Die Herren beklatschen sich und den Kollegen Montesano für Errungenschaften, die sie eigentlich Maria verdanken.
Erbost ergreift sie das Wort und macht darauf aufmerksam, nur um dafür später von ihrem ehemaligen Geliebten abgekanzelt zu werden. Später muss sie sich fragen lassen, woher ihre „männliche Energie“ komme. Das alles erzählt Todorov angenehm unaufgeregt beobachtend, mitunter sogar lakonisch, etwa wenn Maria ihren Vater bittet, den Sohn zu sich nehmen zu dürfen. Emotional scheint im damaligen Italien fast preußische Zurückhaltung geherrscht zu haben.
Revolutionäre Lehrmethode
Wesentlich gefühlvoller ist die Schilderung der aufkeimenden Freundschaft zur (erfundenen) Kurtisane Lili, die als Lebedame eigene Mittel und Wege hat, sich ihre Eigenständigkeit zu bewahren. Sie hilft auch Maria auf die Sprünge, für sich und ihre revolutionäre Lehrmethode einzustehen und Förderinnen für ihre Ideen zu finden. Wie die Methode genau aussieht, wird nicht umständlich erläutert, sondern einfach in langen Einstellungen gezeigt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Lehrerzimmer" – packendes Psychodrama auf dem Schulgelände von İlker Çatak
und hier eine Besprechung des Films "Brother’s Keeper" – bedrückendes Drama in einem Internat von Ferit Karahan
und hier einen Beitrag über den Film "Die Schüler der Madame Anne" – authentisches Erziehungs-Drama aus Frankreich von Marie-Castille Mention-Schaar.
Wissen + Verdrängung
Damit schafft die Regisseurin, die über eine Dokumentation zu alternativen Bildungskonzepten zu dem Stoff gekommen ist, einen Kontrast zu den schön drapierten Belle-Epoque-Interieurs, in denen sich vor allem Lili bewegt. Unverkennbar ist die Geschichte um Ausgewogenheit bemüht. Ihr gelingt dies durch die Spiegelung der beiden letztlich nicht so gegensätzlichen Frauencharaktere. Eine ist von Wissensdurst getrieben, die andere versteht es, „klassisch weibliche“ Mittel einzusetzen.
Da sich die Handlung auf eine kurze Zeitspanne am Anfang von Montessoris Karriere konzentriert, kann auch ihre kürzlich bekannt gewordene opportunistische Mauschelei mit dem Mussolini-Regime und manch spätere zweifelhafte Äußerung zur Euthanasie unerwähnt bleiben. Dennoch ist dieser Film eine sehenswerte Möglichkeit, Maria Montessori und ihrer unbestrittenen Leistung für die Pädagogik näherzukommen.