Ferit Karahan

Brother’s Keeper

Yusuf (Samet Yıldız) versucht, den kranken Memo (Nurullah Alaca) zum Essen zu bewegen. ©Asteros Film 2021. Foto:©Diren Duezguen
(Kinostart: 27.7.) Das eiskalte Klassenzimmer: Den Schülern im Internatsdrama von Ferit Karahan steht nicht der Sinn nach Pennälerspäßen. Zu streng und autoritär ist das Erziehungssystem in Anatolien; für seine beklemmende Schilderung schöpft der kurdische Regisseur aus eigenen Erfahrungen.

Der Druck ist groß – von Anfang an. Struktur und Disziplin bestimmen den Alltag im kurdischen Provinzinternat. Langsam schieben sich die Schüler den engen Flur entlang, alles läuft in geordneten Bahnen. Weil der Platz begrenzt ist und heißes Wasser knapp, müssen sich die Jungen jeweils zu dritt eine der engen Duschkabinen teilen. Mit kleinen Schüsseln waschen sie sich von Kopf bis Fuß. Viel Zeit haben sie nicht. Im Gang wartet die nächste Klasse. Es ist ein eingespieltes System, in dem jeder pariert.

 

Info

 

Brother’s Keeper

 

Regie: Ferit Karahan,

85 Min., Türkei/Rumänien 2021;

mit: Samet Yıldız, Ekin Koç, Nurullah Alaca

 

Weitere Informationen zum Film

 

Als es in einer der Kabinen doch kurz zu Rangeleien kommt, ist sofort ein Lehrer zur Stelle. Die Situation ist eigentlich harmlos, doch die Strafe ist hart: An diesem Abend gibt es für die drei Unruhestifter nur noch kaltes Wasser. Mit geduckten Schultern fügen sie sich dem harschen Befehl. Ihre hageren Körper zittern. Draußen herrscht eisiger Winter. Es stürmt und schneit bei minus 35 Grad.

 

Kinder in Angst

 

Es dauert nicht lange, bis man sich in die Atmosphäre hineinversetzt, die in „Brother’s Keeper“ herrscht. Der Ton ist streng, die Farben sind gedämpft, aus den Augen der Kinder spricht eine tiefe Angst. Das Faszinierende an Ferit Karahans zweitem Spielfilm ist die Art und Weise, auf die der kurdische Regisseur aus jener scheinbar flüchtigen Eröffnungsszene im Duschraum ein so unaufdringliches und zugleich bestürzendes Drama strickt.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Archaische Strukturen

 

Mit wenigen Worten, kleinen Gesten und unaufgeregt leisem Humor inszeniert er eine beeindruckende Geschichte aus Schuld und Schweigen, in den archaischen Strukturen des rigiden Schulsystems. Im Zentrum des Geschehens steht der elfjährige Memo (Nurullah Alaca), der sich am Morgen nach der kalten Dusche nicht wohl fühlt und kaum aufrecht stehen kann. Sein bester Freund Yusuf (Samet Yildiz) soll ihn ins Krankenzimmer bringen. Der aufsichthabende Lehrer hofft, dass Aspirin dem Schüler wieder auf die Beine hilft. Doch bald ist Memo nur noch halb bei Bewusstsein und kann weder reden noch essen. Fieber hat er nicht.

 

Von diesem Moment an wird das Rätsel um Memos Zustand zu einer Art Politikum. Unermüdlich kämpft Yusuf gegen die starre Bürokratie der Schule, um seinem Freund die notwendige medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Immer wieder stößt er bei den Erwachsenen bestenfalls auf träge Gleichgültigkeit. Selbst als endlich der Direktor informiert ist, passiert nicht viel. Alle stellen die gleichen Fragen, finden dieselben Antworten beim Versuch, den Ereignissen der letzten Nacht auf die Spur zu kommen. Ein zermürbendes Spiel aus Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen nimmt seinen Lauf.

 

Extreme Kälte

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Lehrerzimmer" – packendes Psychodrama auf dem Schulgelände von İlker Çatak

 

und hier eine Besprechung des Films "Saf" – anschauliches türkisches Armutsfallen-Drama von Ali Vatansever

 

und hier ein Beitrag über den Film "Stille Post" – eindringlicher Medien-Thriller zum Kurden-Konflikt von Florian Hoffmann

 

und hier einen Bericht über den Film "Song of my Mother"kurdisches Gentrifizierungs-Sozialdrama von Erol Mintaş.

 

Zudem erschwert das extreme Wetter die Situation. Das Internat liegt im anatolischen Bergland, abgeschieden von der Welt. Es ist so kalt, dass die Schlösser an den alten Türen in Nullkommanichts zugefroren sind. Über Nacht ist die Heizung ausgefallen; keines der Autos auf dem Schulgelände ist mit Schneeketten ausgerüstet. Als man endlich auf die Idee kommt, einen Rettungswagen zu rufen, ist keiner verfügbar. Da helfen auch die besten Beziehungen nichts.

 

Ähnlich wie İlker Çataks in dem Publikumshit „Das Lehrerzimmer“, inszeniert Karahan die Schule als einen Mikrokosmos ohne Außenwelt.  Die Handlung spielt sich gänzlich in den kargen, zugigen Räumen des baufälligen Internats ab. Trotzdem zielt auch „Brother’s Keeper“ im Kern auf die Konflikte und Missstände in der Gesellschaft insgesamt ab.

 

Autobiografischer Groll

 

Karahan verlässt sich nicht allein auf das emotionale Drama, das sich langsam um Yusuf zuzuspitzen droht. Gekonnt beleuchtet der Regisseur die Gefühlsstarre, die in diesem autoritären Erziehungsapparat zwischen den türkischen Lehrern und ihren kurdischen Schülern herrscht. Das Drehbuch, das er mit seinem Ko-Autor Gülistan Acet geschrieben hat, beruht auf eigenen Kindheitserfahrungen. Man spürt seinen Groll, den inneren Widerstand gegen das System. Gleichzeitig zeigt er, dass auch die Lehrer auf ihre Weise hilflose Opfer des Systems sind.

 

Im Zuge der Enthüllungen sind die Mitarbeiter gezwungen, sich mit den herrschenden Strukturen und Dynamiken innerhalb der Institution auseinanderzusetzen, die sie bisher mürrisch und wortlos als Norm akzeptiert haben. Am Ende bleibt die Frage, ob Memos Fall ausreichen wird, sie zum Umdenken zu bewegen. Karahans Film lässt eher das Gegenteil befürchten. Die Angst bleibt, der Schock wirkt noch lange nach – auch beim Publikum.