Der Druck ist groß – von Anfang an. Struktur und Disziplin bestimmen den Alltag im kurdischen Provinzinternat. Langsam schieben sich die Schüler den engen Flur entlang, alles läuft in geordneten Bahnen. Weil der Platz begrenzt ist und heißes Wasser knapp, müssen sich die Jungen jeweils zu dritt eine der engen Duschkabinen teilen. Mit kleinen Schüsseln waschen sie sich von Kopf bis Fuß. Viel Zeit haben sie nicht. Im Gang wartet die nächste Klasse. Es ist ein eingespieltes System, in dem jeder pariert.
Info
Brother’s Keeper
Regie: Ferit Karahan,
85 Min., Türkei/Rumänien 2021;
mit: Samet Yıldız, Ekin Koç, Nurullah Alaca
Weitere Informationen zum Film
Kinder in Angst
Es dauert nicht lange, bis man sich in die Atmosphäre hineinversetzt, die in „Brother’s Keeper“ herrscht. Der Ton ist streng, die Farben sind gedämpft, aus den Augen der Kinder spricht eine tiefe Angst. Das Faszinierende an Ferit Karahans zweitem Spielfilm ist die Art und Weise, auf die der kurdische Regisseur aus jener scheinbar flüchtigen Eröffnungsszene im Duschraum ein so unaufdringliches und zugleich bestürzendes Drama strickt.
Offizieller Filmtrailer OmU
Archaische Strukturen
Mit wenigen Worten, kleinen Gesten und unaufgeregt leisem Humor inszeniert er eine beeindruckende Geschichte aus Schuld und Schweigen, in den archaischen Strukturen des rigiden Schulsystems. Im Zentrum des Geschehens steht der elfjährige Memo (Nurullah Alaca), der sich am Morgen nach der kalten Dusche nicht wohl fühlt und kaum aufrecht stehen kann. Sein bester Freund Yusuf (Samet Yildiz) soll ihn ins Krankenzimmer bringen. Der aufsichthabende Lehrer hofft, dass Aspirin dem Schüler wieder auf die Beine hilft. Doch bald ist Memo nur noch halb bei Bewusstsein und kann weder reden noch essen. Fieber hat er nicht.
Von diesem Moment an wird das Rätsel um Memos Zustand zu einer Art Politikum. Unermüdlich kämpft Yusuf gegen die starre Bürokratie der Schule, um seinem Freund die notwendige medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Immer wieder stößt er bei den Erwachsenen bestenfalls auf träge Gleichgültigkeit. Selbst als endlich der Direktor informiert ist, passiert nicht viel. Alle stellen die gleichen Fragen, finden dieselben Antworten beim Versuch, den Ereignissen der letzten Nacht auf die Spur zu kommen. Ein zermürbendes Spiel aus Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen nimmt seinen Lauf.
Extreme Kälte
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Lehrerzimmer" – packendes Psychodrama auf dem Schulgelände von İlker Çatak
und hier eine Besprechung des Films "Saf" – anschauliches türkisches Armutsfallen-Drama von Ali Vatansever
und hier ein Beitrag über den Film "Stille Post" – eindringlicher Medien-Thriller zum Kurden-Konflikt von Florian Hoffmann
und hier einen Bericht über den Film "Song of my Mother" – kurdisches Gentrifizierungs-Sozialdrama von Erol Mintaş.
Ähnlich wie İlker Çataks in dem Publikumshit „Das Lehrerzimmer“, inszeniert Karahan die Schule als einen Mikrokosmos ohne Außenwelt. Die Handlung spielt sich gänzlich in den kargen, zugigen Räumen des baufälligen Internats ab. Trotzdem zielt auch „Brother’s Keeper“ im Kern auf die Konflikte und Missstände in der Gesellschaft insgesamt ab.
Autobiografischer Groll
Karahan verlässt sich nicht allein auf das emotionale Drama, das sich langsam um Yusuf zuzuspitzen droht. Gekonnt beleuchtet der Regisseur die Gefühlsstarre, die in diesem autoritären Erziehungsapparat zwischen den türkischen Lehrern und ihren kurdischen Schülern herrscht. Das Drehbuch, das er mit seinem Ko-Autor Gülistan Acet geschrieben hat, beruht auf eigenen Kindheitserfahrungen. Man spürt seinen Groll, den inneren Widerstand gegen das System. Gleichzeitig zeigt er, dass auch die Lehrer auf ihre Weise hilflose Opfer des Systems sind.
Im Zuge der Enthüllungen sind die Mitarbeiter gezwungen, sich mit den herrschenden Strukturen und Dynamiken innerhalb der Institution auseinanderzusetzen, die sie bisher mürrisch und wortlos als Norm akzeptiert haben. Am Ende bleibt die Frage, ob Memos Fall ausreichen wird, sie zum Umdenken zu bewegen. Karahans Film lässt eher das Gegenteil befürchten. Die Angst bleibt, der Schock wirkt noch lange nach – auch beim Publikum.