Heute muss es klappen: Hazal (Melia Kara) macht sich Mut. Sie wirkt selbstbewusst, aufgeschlossen und engagiert, als sie im Vorstellungsgespräch mit der Personalleiterin ihren Lebenslauf durchgeht. Berufsorientierung, Bewerbungstraining, Praktika – eigentlich ist alles da, was sie für einen Ausbildungsplatz im Pflegeheim braucht. Trotzdem wird der fast Volljährigen ohne mittleren Schulabschluss wieder keine Chance gegeben. Die Tür knallt zu, und Hazal ist raus.
Info
Ellbogen
Regie: Aslı Özarslan,
86 Min., Deutschland/ Türkei 2024;
mit: Melia Kara, Jamilah Bagdach, Asya Utku
Weitere Informationen zum Film
Geburtstag im Zeichen der Wut
Richtig geborgen fühlt sich Hazal deshalb nur bei ihren Freundinnen. Denen geht es auch nicht besser als ihr, und wie eine echte Clique halten sie alle zusammen. An Hazals 18. Geburtstag wollen sie feiern gehen. Doch der Türsteher ihres Lieblingsclubs hat ausgerechnet in dieser Nacht etwas gegen sie. Als die jungen Frauen auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn dann auch noch von einem Typen blöd angemacht werden, eskaliert die Situation. Ihre Wut und Frustration brechen sich plötzlich gewalttätig Bahn.
Offizieller Filmtrailer
Flucht nach Istanbul
Wie schon so oft muss Hazal wieder rennen – sie muss weg aus Berlin. Instinktiv flieht sie noch in derselben Nacht nach Istanbul. Es ist ein harter Schnitt, auch filmisch. Denn das Stürmische und Rebellische, das die Protagonistin im ersten Teil von Aslı Özarslan Spielfilmdebüt „Ellbogen“ vorangetrieben hat, wird in der Fremde merklich ausgebremst.
Die junge Schauspielerin Melia Kara, die Hazal spielt, füllt ihre Rolle mit viel Trotz und innerer Stärke aus. Mal sitzt die Kamera ihr im Nacken, mal konzentriert sie sich auf ihr noch immer kindliches Gesicht. Aber nie überlässt Kara ihre Figur der Möglicheit, sie mit einfachen Wertungen abzustempeln. Dabei lässt ihr Blick sie kühl und verletzlich zugleich wirken.
Im Kampf gegen die Welt
In der Türkei angekommen, sucht Hazal bei ihrem Freund Mehmet (Doğa Gürer) Halt, der ihr anbietet, dass sie erst einmal bei ihm unterkommen kann. Die beiden kennen sich aus dem Internet und haben über Skype eine vage Beziehung aufgebaut. Doch je mehr Zeit Hazal in Istanbul verbringt, desto mehr wird ihr bewusst, wie einsam sie sich in ihrer neuen Lage fühlt.
Für Verzweiflung und Tränen ist sie jedoch nicht gemacht, im Gegenteil. Hazal stellt sich mit einer Unbedingtheit gegen die Welt, die Schmerz und Angst nur selten zulässt: Sie will nicht Opfer sein, auch keine Täterin – und eine Verliererin ist sie ganz sicher nicht. Ihre Unnahbarkeit macht ihre Figur menschlich; sympathisch wird sie deshalb noch lange nicht.
Dokumentarfilmerin adaptiert Romandebüt
Aber man kann die junge Frau verstehen, die hier verbissen um ihren Platz in der Gesellschaft kämpft. Auch Regisseurin Aslı Özarslan hat ein gutes Gefühl für ihre Hauptfigur; sie zeigt sie auf Augenhöhe in all ihrem Widerstandswillen und ihrer Ambivalenz – wie es die Schriftstellerin Fatma Aydemir bereits in der gleichnamigen Romanvorlage angelegt hat.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Crossing: Auf der Suche nach Tekla" über die Odyssee einer georgische Lehrerin in der Halbwelt der Bosporus-Metropole von Levan Akin
und hier eine Besprechung des Films "Elaha" – mitreißend inszeniertes Porträt einer jungen Deutsch-Kurdin vor der Heirat von Milena Aboyan
und hier einen Beitrag über den Film "Nur eine Frau" – differenziertes Dokudrama über den Mord an der Deutsch-Kurdin Hatun Sürücü von Sherry Hormann.
Ungewissheit und Hoffnung am Ende
Angst macht sich breit, als plötzlich die Polizei in der Wohnung auftaucht. Panisch spült Hazal ihren Personalausweis in der Toilette runter. Dabei geht es Erdoğans Häschern in dem Augenblick gar nicht um sie. Doch auch in Istanbul hat Hazal die Nachrichten zu Hause in Deutschland verfolgt: Dort wird sie gesucht. Ihr ist klar, dass sie nicht zurückkehren kann.
Hazal weiß nicht, welche Zukunft ihr bevorsteht. Nur eines ist klar: die Schuld an der Gewalttat in der Berliner U-Bahn auf sich zu nehmen, kommt für sie nicht in Frage. Dafür hat sie zu viel einstecken müssen und zu viel Ablehnung erlebt. In diesem Sinne liefert Özarslans Film auch keine Antworten; mögliche Lösungen und Wege bleiben unbestimmt. Das soll Hoffnung machen, doch hinterlässt die Ungewissheit eher ein beklemmendes Gefühl.