Der Filmtitel ist etwas irreführend: Kein Bild zeigt den Diktator, der Kambodscha von 1975 bis 1979 beherrschte, tanzend. Es gibt auch keine Belege dafür, dass er je getanzt hat. Die Roten Khmer waren sehr auf Geheimhaltung bedacht, und anders als viele Tyrannen vermied Pol Pot (1928-1998) jeden Personenkult; von ihm sind nur wenige Film- und Fotoaufnahmen erhalten. Doch ihm war klassischer Tanz gewiss vertraut – und heutzutagen nutzen manche Überlebende Tanz, um den Staatsterror und seine Folgen darzustellen.
Info
Pol Pot Dancing
Regie: Enrique Sánchez Lansch,
101 Min., Kambodscha/ Deutschland/ Norwegen 2023;
mit: Chea Samy, Sophiline Cheam Shapiro, Promsodun Ok
Weitere Informationen zum Film
Tänzerinnen im Goldenen Käfig
Um 1925 wurde das Talent der sechsjährigen Bauerntochter Chea Samy entdeckt und sie ins königliche Tanzensemble aufgenommen. Wie in anderen Kulturen Südostasiens, etwa in Thailand oder Indonesien, hat auch der klassische kambodschanische Tanz seine Wurzeln im indischen, aber eigene Spielarten ausgebildet; er stellt vorwiegend buddhistische Mythen und nationale Legenden dar. Es ist eine höfische Kunst, die Jahrhunderte lang in kleinen Zirkeln tradiert und verfeinert worden war. Die Tänzerinnen des Königs lebten wie im Goldenen Käfig: wohlversorgt und streng abgeschottet.
Offizieller Filmtrailer OmU
Saloth Sar als Ziehsohn am Königshof
Zu ihnen zählte auch Chea Samy, Favoritin des Königs Monivong. Nach dessen Tod heiratete sie den Palastbeamten Saloth Suong. Der hatte Anfang der 1930er Jahre aus der Provinz seinen jüngeren Brüder Saloth Sar zu sich geholt, um ihm eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Sar verbrachte also seine Kindheit am Königshof. Er war ein mittelmäßiger Schüler, erhielt aber dennoch ein Stipendium für ein Studium im Ausland und reiste 1949 nach Frankreich.
All das erzählt Chea Samy in ruhigen, bedachten Worten auf Videobändern, die kurz vor ihrem Tod 1994 aufgezeichnet wurden. Wozu soll man das wissen? Weil Saloth Sar in Frankreich in kommunistischen Zirkeln indoktriniert wurde, sein Studium abbrach, 1953 nach Kambodscha zurückkehrte und sein weiteres Leben als Kader dem ideologischen und militärischen Kampf widmete. Um 1960 nahm er den nom de guerre Pol Pot an; als Staatchef war er für die Roten Khmer „Bruder No. 1“.
Phnom Penh wird zur Geisterstadt
Wie es zu ihrer Machtübernahme kam – weil Kambodscha in den Vietnamkrieg hineingezogen wurde und US-Bombardements die Landbevölkerung in Scharen der kommunistischen Guerilla zutrieben – überspringt der Film. Am 17. April 1975 marschierten die Roten Khmer in der Hauptstadt ein und deportierten binnen weniger Tage die gesamte Bevölkerung: Auf selten gezeigten Archivbildern ist Phnom Penh als fast menschenleere Geisterstadt zu sehen, in der nur ein paar Uniformierte mit Waffen herumfuchteln.
Damals war Sophiline Cheam Shapiro acht Jahre alt. Auch sie wurde mit ihrer Familie aufs Land vertrieben; diese sollte künftig mitten im Nirgendwo als Reisbauern leben. In ergreifenden Einstellungen spricht Shapiro mit früheren Dorf-Nachbarn und richtet mit ihrem US-Mann ein buddhistisches Begräbnisritual dort aus, wo sie die Grabstelle ihres Vaters vermutet: an einem Feldrain. Doch ansonsten pflegt sie das Andenken an die Gewalt-Opfer mit Mitteln des Tanzes.
Einzige überlebende Hoftänzerin
1979 vertrieben vietnamesische Truppen die Roten Khmer, die sich in Kambodschas Nordwesten zurückzogen, und besetzten die Kapitale. Dorthin kehrte Chea Samy nach vier Jahren Schufterei als Küchenhilfe in der Provinz zurück; laut eigener Aussage war sie das einzige Mitglied des Tanzensembles, das die Jahre des Terrors überlebt hatte. Um das kulturelle Erbe des kambodschanischen Tanzes vor dem Vergessen zu bewahren, begann sie, Hunderte junger Mädchen auszubilden. Eine der begabtesten war Sophiline Cheam Shapiro.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "In den Uffizien" – Doku über das Florentiner Museum von Corinna Belz und Enrique Sánchez Lansch
und hier eine Besprechung des Films "Bonne Nuit Papa" – Doku über eine deutsch-kambodschanische Familie und Folgen des Terror-Regimes der Roten Khmer von Marina Kem
und hier einen Bericht über den Film "Diamond Island" – Porträt der heutigen Jugend in Kambodscha von Davy Chou
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Schätze der Archäologie Vietnams" – erste deutsche und großartig gelungene Überblicksschau in Chemnitz + Mannheim.
Anmutige Bewegung, grausiger Gehalt
Alles in formvollendet austarierten Konstellationen, in denen jeder Schritt und jede Handhaltung eine symbolische Bedeutung hat: Der Kontrast zwischen den anmutigen Bewegungen und dem grausigen Gehalt ist atemberaubend. Diese traumschönen Sequenzen schneidet Regisseur Sánchez Lansch ausgiebig zwischen Doku- und Interview-Passagen.
Die Figur von Sar/ Pol Pot verkörpert der Tänzer Prumsodun Ok. Als Kind von Exil-Kambodschanern 1987 in den USA geboren, kennt er den Terror nur aus Erzählungen – und stellt die entscheidenden Fragen. Wie kam Chea Samy damit zurecht, dass ihr einstiger Ziehsohn zu einem der blutrünstigen Massenmörder des 20. Jahrhunderts wurde? Und warum überzog Pol Pot die ihm vertraute Hochkultur mit derartigem Vernichtungsfuror?
Zeitabstand erklärt wenig
Beantwortet werden diese Fragen nicht. Selbst der Blick auf den zeitlichen Abstand – von Sars Weggang aus dem Palast dauerte es rund ein Vierteljahrhundert bis zur Eroberung von Phnom Penh – hilft nicht wirklich weiter. Doch zumindest entlässt der Film den Zuschauer mit dem Trost, dass die Tradition der kambodschanischen Tanzkunst vor dem Untergang gerettet worden ist.