Enrique Sánchez Lansch

Pol Pot Dancing

Eine Tänzerin des königlichen Ensembles führt den Tänzer (Promsodun Ok), der Sarloth Sar/ Pol Pot darstellt, durch den Königspalast. Foto: Jip film & verleih
(Kinostart: 5.12.) Die Extreme berühren sich: Kambodschas Diktator Pol Pot, dessen Rote Khmer bis zu zwei Millionen Landsleute massakrierten, war am Königshof unter Tänzern aufgewachsen. Diese Paradoxie beleuchtet Regisseur Enrique Sánchez Lansch mit bewegenden Aufnahmen und traumschönen Tanz-Szenen.

Der Filmtitel ist etwas irreführend: Kein Bild zeigt den Diktator, der Kambodscha von 1975 bis 1979 beherrschte, tanzend. Es gibt auch keine Belege dafür, dass er je getanzt hat. Die Roten Khmer waren sehr auf Geheimhaltung bedacht, und anders als viele Tyrannen vermied Pol Pot (1928-1998) jeden Personenkult; von ihm sind nur wenige Film- und Fotoaufnahmen erhalten. Doch ihm war klassischer Tanz gewiss vertraut – und heutzutagen nutzen manche Überlebende Tanz, um den Staatsterror und seine Folgen darzustellen.

 

Info

 

Pol Pot Dancing

 

Regie: Enrique Sánchez Lansch,

101 Min., Kambodscha/ Deutschland/ Norwegen 2023;

mit: Chea Samy, Sophiline Cheam Shapiro, Promsodun Ok

 

Weitere Informationen zum Film

 

Tanz als Medium der Vergangenheitsbewältigung? Dieses fremdartige, fast schon verstörende Konzept veranschaulicht Regisseur Enrique Sánchez Lansch, indem er sein Sujet behutsam entfaltet. Was Tanz alles vermag, hat er bereits 2004 in „Rhythm is it!“ vorgeführt. In dieser Doku studieren Kinder aus Berliner Problemschulen ein Ballett von Igor Strawinsky ein; sie wurde zum Programmkino-Überraschungserfolg. Doch das Thema seines neuen Films ist wesentlich heikler; Sánchez Lansch geht es mit ausführlichen historischen Rückblicken an.

 

Tänzerinnen im Goldenen Käfig

 

Um 1925 wurde das Talent der sechsjährigen Bauerntochter Chea Samy entdeckt und sie ins königliche Tanzensemble aufgenommen. Wie in anderen Kulturen Südostasiens, etwa in Thailand oder Indonesien, hat auch der klassische kambodschanische Tanz seine Wurzeln im indischen, aber eigene Spielarten ausgebildet; er stellt vorwiegend buddhistische Mythen und nationale Legenden dar. Es ist eine höfische Kunst, die Jahrhunderte lang in kleinen Zirkeln tradiert und verfeinert worden war. Die Tänzerinnen des Königs lebten wie im Goldenen Käfig: wohlversorgt und streng abgeschottet.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Saloth Sar als Ziehsohn am Königshof

 

Zu ihnen zählte auch Chea Samy, Favoritin des Königs Monivong. Nach dessen Tod heiratete sie den Palastbeamten Saloth Suong. Der hatte Anfang der 1930er Jahre aus der Provinz seinen jüngeren Brüder Saloth Sar zu sich geholt, um ihm eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Sar verbrachte also seine Kindheit am Königshof. Er war ein mittelmäßiger Schüler, erhielt aber dennoch ein Stipendium für ein Studium im Ausland und reiste 1949 nach Frankreich.

 

All das erzählt Chea Samy in ruhigen, bedachten Worten auf Videobändern, die kurz vor ihrem Tod 1994 aufgezeichnet wurden. Wozu soll man das wissen? Weil Saloth Sar in Frankreich in kommunistischen Zirkeln indoktriniert wurde, sein Studium abbrach, 1953 nach Kambodscha zurückkehrte und sein weiteres Leben als Kader dem ideologischen und militärischen Kampf widmete. Um 1960 nahm er den nom de guerre Pol Pot an; als Staatchef war er für die Roten Khmer „Bruder No. 1“.

 

Phnom Penh wird zur Geisterstadt

 

Wie es zu ihrer Machtübernahme kam – weil Kambodscha in den Vietnamkrieg hineingezogen wurde und US-Bombardements die Landbevölkerung in Scharen der kommunistischen Guerilla zutrieben – überspringt der Film. Am 17. April 1975 marschierten die Roten Khmer in der Hauptstadt ein und deportierten binnen weniger Tage die gesamte Bevölkerung: Auf selten gezeigten Archivbildern ist Phnom Penh als fast menschenleere Geisterstadt zu sehen, in der nur ein paar Uniformierte mit Waffen herumfuchteln.

 

Damals war Sophiline Cheam Shapiro acht Jahre alt. Auch sie wurde mit ihrer Familie aufs Land vertrieben; diese sollte künftig mitten im Nirgendwo als Reisbauern leben. In ergreifenden Einstellungen spricht Shapiro mit früheren Dorf-Nachbarn und richtet mit ihrem US-Mann ein buddhistisches Begräbnisritual dort aus, wo sie die Grabstelle ihres Vaters vermutet: an einem Feldrain. Doch ansonsten pflegt sie das Andenken an die Gewalt-Opfer mit Mitteln des Tanzes.

 

Einzige überlebende Hoftänzerin

 

1979 vertrieben vietnamesische Truppen die Roten Khmer, die sich in Kambodschas Nordwesten zurückzogen, und besetzten die Kapitale. Dorthin kehrte Chea Samy nach vier Jahren Schufterei als Küchenhilfe in der Provinz zurück; laut eigener Aussage war sie das einzige Mitglied des Tanzensembles, das die Jahre des Terrors überlebt hatte. Um das kulturelle Erbe des kambodschanischen Tanzes vor dem Vergessen zu bewahren, begann sie, Hunderte junger Mädchen auszubilden. Eine der begabtesten war Sophiline Cheam Shapiro.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "In den Uffizien" – Doku über das Florentiner Museum von Corinna Belz und Enrique Sánchez Lansch

 

und hier eine Besprechung des Films "Bonne Nuit Papa" – Doku über eine deutsch-kambodschanische Familie und Folgen des Terror-Regimes der Roten Khmer von Marina Kem

 

und hier einen Bericht über den Film "Diamond Island" – Porträt der heutigen Jugend in Kambodscha von Davy Chou

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Schätze der Archäologie Vietnams" – erste deutsche und großartig gelungene Überblicksschau in Chemnitz + Mannheim.

 

Sie gründete nach einem US-Studium 2005 ihr eigenes Ensemble, für das sie neue Choreographien erarbeitet. Die wohl aufwühlendste behandelt die Biographie von Saloth Sar: wie der Bauernjunge den verschwenderisch geschmückten Königspalast bewundert, im Hofleben aufwächst, aber nach seiner Rückkehr aus dem Ausland erst den Guerillakampf anführt, dann seinen Steinzeit-Kommunismus durchsetzt.

 

Anmutige Bewegung, grausiger Gehalt

 

Alles in formvollendet austarierten Konstellationen, in denen jeder Schritt und jede Handhaltung eine symbolische Bedeutung hat: Der Kontrast zwischen den anmutigen Bewegungen und dem grausigen Gehalt ist atemberaubend. Diese traumschönen Sequenzen schneidet Regisseur Sánchez Lansch ausgiebig zwischen Doku- und Interview-Passagen.

 

Die Figur von Sar/ Pol Pot verkörpert der Tänzer Prumsodun Ok. Als Kind von Exil-Kambodschanern 1987 in den USA geboren, kennt er den Terror nur aus Erzählungen – und stellt die entscheidenden Fragen. Wie kam Chea Samy damit zurecht, dass ihr einstiger Ziehsohn zu einem der blutrünstigen Massenmörder des 20. Jahrhunderts wurde? Und warum überzog Pol Pot die ihm vertraute Hochkultur mit derartigem Vernichtungsfuror?

 

Zeitabstand erklärt wenig

 

Beantwortet werden diese Fragen nicht. Selbst der Blick auf den zeitlichen Abstand – von Sars Weggang aus dem Palast dauerte es rund ein Vierteljahrhundert bis zur Eroberung von Phnom Penh – hilft nicht wirklich weiter. Doch zumindest entlässt der Film den Zuschauer mit dem Trost, dass die Tradition der kambodschanischen Tanzkunst vor dem Untergang gerettet worden ist.