
Braucht ein 480-Seelen-Dorf wirklich ein eigenes Wirtshaus? Auf jeden Fall, fanden die Einwohner im oberbayrischen Pischelsdorf. Sie taten sich zusammen, um die „Fanni“ wiederzubeleben, einen seit den 1980er Jahren leer stehenden Gasthof. Er hat diesen Namen von seiner letzten Wirtin geerbt: Die alte Fanni ließ ihre Erben am Sterbebett schwören, dass sie am Haus nichts verändern würden; andernfalls werde ihr Geist sie heimsuchen.
Info
Fanni –
Oder: Wie rettet man ein Wirtshaus?
Regie: Hubert Neufeld,
92 Min., Deutschland 2024
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Das Konzept des „Dritten Ortes“
Oft ist zurzeit von abgehängten Milieus im ländlichen Raum die Rede. Wobei als zentraler Aspekt dieses sozioökonomischen Wandels, der immer mehr Menschen zu Pendlern und immer mehr Dörfer zu reinen Schlafstätten macht, der Verlust sozialer Orte gilt. Bei seinen Recherchen stieß Neufeld auf das soziologische Konzept des „Dritten Ortes“. Es beschreibt gesellschaftliche Räume jenseits von Familie und Arbeit, die niederschwellige Begegnungen in spielerischer, möglichst unkommerzieller Atmosphäre ermöglichen.
Offizieller Filmtrailer
Der überdachte Marktplatz
Insbesondere in Bayern ist ein Wirtshaus auf dem Lande von jeher mehr als nur ein Gastronomiebetrieb. Für den Kabarettisten Gerhart Polt ist es ein „überdachter Marktplatz, ein Katalysator von Meinungen, Wissen, Illusionen“. Polt ist der prominenteste Interviewpartner, den Neufeld vor die Kamera holt. Zusätzlich äußern sich unter anderem ein Heimatforscher, eine Stadtplanerin und die Sprecherin des Hotel- und Gaststättenverbands über die Bedeutung dieses Alltags-Kulturguts.
Es geht Neufeld um die Einbettung des Themas in größere Zusammenhänge: kulturgeschichtlich, soziologisch und ökonomisch. Schließlich ist das oft beklagte Wirtshaus-Sterben nur Symptom eines tiefer greifenden Strukturwandels. Nicht nur Gaststätten verschwinden; vielerorts bröckelt inzwischen die Infrastruktur des täglichen Lebens weg. So erinnert der Direktor des in Augsburg ansässigen „Hauses der Bayerischen Geschichte“ daran, dass in zahlreichen kleineren Orten auch keine Lebensmittelhändler mehr zu finden sind.
Entspannter Umgang mit Problemen
Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Provinz. Dennoch mutet die von den Interviewpartnern immer wieder leicht abgewandelt vorgetragene These, dass ein bayrisches Wirtshaus ein ganz besonderes Kulturgut sei, dessen bloße Existenz die ganze Umgebung belebe, auf Dauer etwas redundant an. Unterhaltungswert haben dagegen Anekdoten über die einstige, eigenwillige Wirtin; sie trat offenbar schroff und wenig dienstleistungsorientiert auf. Für Lokalkolorit und Einblicke, wie sich das Landleben im Lauf der Jahrzehnte gewandelt hat, sorgt zudem historisches Archivmaterial.
Vier in das Projekt besonders involvierte Freiwillige werden näher vorgestellt. Man erhält dabei einen guten Eindruck von ihren Motivationen und ihrem oft tiefenentspannten Umgang mit Problemen; zum Beispiel bremste während der Energiekrise ein Lieferengpass von Dachziegeln das Sanierungs-Vorhaben. Das wirkt alles durchweg authentisch, auch sprachlich – so sehr, dass man sich in einigen Momenten Untertitel wünscht.
Vom Singles- bis zum Rentnertreff
Trotzdem hätte Filmemacher Neufeld vielleicht nicht jedem Detail nachgehen sollen, den eine so aufwändige Renovierung mit sich bringt. Für leidenschaftliche Heimwerker mag das von Interesse sein, für das übrige Publikum weniger. Dagegen wird eine andere interessante Frage vergleichsweise wenig behandelt: nämlich, wie das neue „Fanni“-Wirtshaus mit Leben gefüllt werden soll. Was kann man außer Trinken und Plaudern in den Räumlichkeiten noch machen? Wer organisiert den Betrieb?
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Micha denkt groß" – ambivalente Provinz-Komödie von Lars Jessen
und hier eine Besprechung des Films "Mittagsstunde" – nordfriesischer Heimatfilm über die Agonie eines Dorfes von Lars Jessen mit Charly Hübner
und hier einen Beitrag über den Film "Kofelgschroa. Frei. Sein.Wollen." – feinsinnige Doku über die Neo-Volksmusik-Gruppe aus Oberammergau von Barbara Weber.
Etliche Strickkurse, wenig Jugendliche
Wie das neue Leben konkret Einzug in die alten Gemäuer hält, zeigt der Film leider nicht. Nach kitschig inszenierten, mit Blasmusik untermalten Bildern von der Eröffnung der „Fanni“ informiert eine karge Einblendung, was im folgenden Jahr stattfand. Neben Stammtischen, Vereins- und Privatveranstaltungen waren das unter anderem: einmal Trauercafé, zwei Filmvorführungen, dreimal Ladies Night und etliche Socken-Strickkurse.
Ein analoges Miteinander in sozial zunehmend entkoppelten Zeiten – hier scheint es zu funktionieren. Allerdings fällt auf, dass die Dorfjugend auf der Liste der Nutzer ziemlich unterrepräsentiert ist.