Julia Jentsch

Was Marielle weiß

Marielle (Laeni Geiseler) hat eine besondere Gabe. Foto: © Alexander Griesser, Walker+ Worm Film/ DCM
(Kinostart: 17.4.) Wenn Kindermund den Rand nicht hält: Im satirischen Familiendrama von Frédéric Hambalek durchschaut eine Tochter unwillentlich die Lügengebäude ihrer Eltern – dank glänzender Besetzung ein grimmiges Vergnügen, das der Regisseur genüsslich unter der glatten Oberfläche brodeln lässt.

Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen. Bei Marielle (Laeni Geiseler) ist neuerdings das Gegenteil der Fall. Seit sie in der Schule eine Freundin als Schlampe beschimpft und dafür von dieser eine Ohrfeige kassiert hat, kann die 13-Jährige alles sehen und hören, was Vater Tobias (Felix Kramer) und Mutter Julia (Julia Jentsch) in ihrem Alltag so treiben – auch wenn sie selbst nicht anwesend ist.

 

Info

 

Was Marielle weiß

 

Regie: Frédéric Hambalek,

86 Min., Deutschland 2025;

mit: Julia Jentsch, Felix Kramer, Laeni Geiseler, Moritz Treuenfels

 

Weitere Informationen zum Film

 

Ihre Gabe sorgt zuhause rasch für Probleme: Als Tobias und Julia von der neu erworbenen Fähigkeit ihrer Tochter erfahren, wird aus ihrem Unglauben schnell Verunsicherung. Plötzlich greifen all die Lügen nicht mehr, die sie sich gerne selbst und gegenseitig auftischen. Je schonungsloser Marielle die Wahrheit ausspricht, desto angespannter wird die Situation.

 

Unfreiwillige Zeugin

 

Marielles neue Begabung macht sie zur unfreiwilligen Zeugin: Sie weiß jetzt, dass Julia raucht und von ihrer Ehe derart gelangweilt ist, dass sie im Büro mit einem Kollegen flirtet. Gleichzeitig stellt Tobias sich als Weichei heraus. Bei einer Redaktionssitzung im Verlag schafft er es nicht, sich gegenüber einem arroganten Kollegen durchzusetzen, der auch noch deutlich jünger ist. Als er die Geschichte am Abend zu seinen Gunsten abwandelt, wird er von seiner Tochter berichtigt – ein herrlich peinlicher Moment.

Offizieller Filmtrailer


 

Zwischen den Fronten einer Ehekrise

 

Für ihre Ehrlichkeit muss das Mädchen bezahlen: Julia schleppt sie zum Arzt, Tobias erteilt ihr Tablet-Verbot. Bald gerät Marielle zwischen die Fronten einer elterlichen Ehekrise, die schon länger hinter der Fassade des schicken Eigenheim-Idylls brodelt. „Marielle, du musst mitspielen“, wird sie von ihrer Mutter ermahnt. Und der Vater verspricht, seiner Tochter den Tablet-Computer zurückzugeben, wenn sie ihm dafür die Geheimnisse seiner Frau verrät.

 

Beide Elternteile im zielstrebig eskalierenden Familiendrama von Frédéric Hambalek (Drehbuch und Regie) reagieren konträr auf den Spuk, wie es ihren Charakteren entspricht: Julia ist zu stolz, um sich von ihrer Tochter irgendetwas vorschreiben zu lassen. Sie versucht, die permanente Überwachung mit immer raffinierteren Tricks zu umgehen. Als ihr das alles zu blöd wird, schafft sie Fakten, die schmerzlich für alle Familienmitglieder sind. 

 

Weich gezeichneter Vater perfekt besetzt

 

Tobias dagegen wagt in seiner Verzweiflung etwas Anderes: Er will seinen Minderwertigkeits-Komplex überwinden und zwingt sich dazu, einmal aus sich heraus zu gehen. Gleichzeitig sucht er immer wieder die Nähe zu Marielle, für die er gern ein Fels in der Brandung wäre. Felix Kramer ist für diese bewusst weich gezeichnete, in sich zerrissene Vaterfigur genau die richtige Besetzung.

 

Getragen wird Hambaleks Satire über das trügerische moderne Familienidyll jedoch von Laeni Geiseler als Marielle. Obwohl sie oft im Hintergrund agiert, ist sie das emotionale Zentrum des Films: ein Mädchen, das über eine Superkraft verfügt, die sie gar nicht haben will. In der Pubertät hat sie es auch ohne die absurden Folgen ihres Ohrfeigen-Traumas schon schwer genug.

 

Unheimliche Wirklichkeit mit Schuss Humor

 

Hintergrund

 

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und hier eine Besprechung des Films "Alles Fifty Fifty" – deutsche Beziehungskomödie über ein getrenntes, aber gemeinsam erziehendes Paar von Alireza Golafshan mit Moritz Bleibtreu

 

sowie hier einen Beitrag über den Film "Monte Verità – Der Rausch der Freiheit" – Historiendrama über die erste moderne Aussteigerkolonie von Stefan Jäger mit Julia Jentsch.

 

Vom inneren Gefühlschaos, das seine Protagonisten überwältigt, lässt der Regisseur wenig nach außen dringen. Die Inszenierung ist kühl, das Setting eine anonyme urbane Landschaft aus quadratischen Häusern, Büros und Parkplätzen – offen, aufgeräumt und oft aus Glas. Der Wiedererkennungs-Faktor dieser blassen, blau-grauen Allerwelts-Wirklichkeit strahlt hier eine unheimliche Wirkung aus.  

 

Überraschend ist das nicht. Bereits Hambaleks Spielfilmdebüt, „Model Olimpia“ (2020) erinnerte in seiner Düsternis an die Dramen des österreichischen Regisseurs Michael Haneke. Darin ging es um die Beziehung einer Mutter zu ihrem unsozialen, gewaltbesessenen Sohn. In seinem zweiten Spielfilm beschäftigt sich der Filmemacher erneut mit der unergründlichen Dynamik zwischen Eltern und Kindern.

 

Böser Zauber bleibt ein Rätsel

 

Diesmal hat er einen Schuss Humor und fantastische Elemente hinzugefügt, was der Geschichte durchaus gut tut. Und den Clou der Inszenierung darstellt – aber gleichzeitig ihr Handicap, weil sie etwas überfrachtet wird. Immerhin soll „Was Marielle weiß“ sowohl Sittenkomödie und Familiendrama mit gesellschaftskritischen Untertönen als auch Coming-of-Age-Story in einem sein. Wobei hier vor allem die Eltern erwachsen werden müssen; bis jedoch endlich alle mit offenen Karten spielen, vergeht viel Zeit.

 

Dabei droht das strenge formale Korsett, das Hambalek seinem Film anlegt, den Witz bisweilen zu ersticken, bevor der richtig zünden kann. Warum ausgerechnet Marielle ihre telepathische Gabe erhält, wird übrigens weder angesprochen noch aufgeklärt. Der böse Zauber bleibt ein Rätsel – eine bissige und äußerst unterhaltsame, spielerische Provokation.