Der Film-Titel ist eine Provokation. Er provoziert mit kontrafaktischer Lakonie, wie einige Film-Titel von Michael Haneke. «Funny Games» war 1997 weder lustig noch verspielt. «Das weiße Band» suggerierte 2009 eine friedliche Unschuld, die dieses Psycho-Drama schwarzer Pädagogik Lügen strafte. Nun also «Liebe».
Info
Liebe - Amour (2012)
Regie: Michael Haneke, 125 min., Frankreich 2012;
mit: Emmanuelle Riva, Jean-Louis Trintignant, Isabelle Huppert
Altbau-Wohnung voller Bücher + Platten
Eines kultivierten, aber keineswegs außergewöhnlichen Paares: Anne (Emmanuelle Riva) und Georges (Jean-Louis Trintignant) sind beide um die 80 Jahre alt und Musik-Professoren im Ruhestand. Sie führen ein zurückgezogenes, beschauliches Dasein in ihrer Pariser Altbau-Wohnung voller Bücher und Platten – wie viele Bildungsbürger in reiferen Jahren.
Offizieller Film-Trailer
Übliche kleine Schwächen auf beiden Seiten
Eines Tages erleidet Anne einen Schlaganfall; fortan sitzt sie halbseitig gelähmt im Rollstuhl. Ein Schicksals-Schlag, aber in diesem Alter nichts Ungewöhnliches. George kümmert sich liebevoll um sie; beide bewältigen ihre Behinderung, so gut es eben geht. Mit den üblichen kleinen Schwächen: Unsicherheit und leichte Überforderung auf seiner, Ungeduld und der Wunsch nach Normalität auf ihrer Seite.
Dann sucht Anne ein zweiter Schlaganfall heim, der sie ungleich härter trifft. Nun kann sie das Bett nicht mehr verlassen und kaum noch sprechen. Was ihre Tochter (Isabelle Huppert) entsetzt: «Sie redet nur noch Unsinn!». Doch George schiebt seine Frau nicht ins Heim ab, sondern pflegt sie aufopferungsvoll weiter zuhause. Bis er ihren allmählichen geistigen und körperlichen Verfall nicht mehr erträgt und zum Äußersten greift.
Zuneigung, die nichts erschüttern kann
Das ist Liebe laut Haneke: bedingungslose Solidarität und füreinander da sein bis zum letzten Atemzug. Der österreichische Regisseur beglaubigt es mit schonungslosem Naturalismus, der sich um Kino-Konventionen nicht kümmert. Es passiert nicht viel in diesem Kammerspiel mit zwei Rentnern, die ihre Wohnung selten verlassen. Doch weil ihre Welt klein geworden ist, gewinnen alle Einzelheiten enorm an Bedeutung.
Die fängt die Kamera mit unermüdlicher Präzision ein. Bald weiß der Zuschauer ebenso gut wie die Bewohner, wie die Räume angeordnet und eingerichtet sind; er fände sich wie sie blindlings zurecht. Die gelassene Vertrautheit mit den Dingen und miteinander, aus der eine Zuneigung erwächst, die nichts erschüttern kann – das ist Sujet dieses Films.
Szenario ohne Apparate-Medizin
Haneke gelingt das durch unerbittliche Genauigkeit bis in die kleinsten Details: Sie macht seine Szenarien so glaubhaft, dass ihre Realitätsnähe ergreift. Seine Darstellung einer Moribunden kommt ohne Apparate-Medizin aus, wie sie Andreas Dresen 2011 im Porträt eines Krebskranken «Halt auf freier Strecke» vorführte.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Und wenn wir alle zusammenziehen?" von Stéphane Robelin über eine Rentner-WG mit Jane Fonda
und hier einen Beitrag über den Film "Halt auf freier Strecke" von Andreas Dresen.
Liebe + Tod als einzige Kunst-Themen
Jeder andere Regisseur würde solche Szenen raffen und schneiden – Haneke nicht. Er erspart dem Publikum keine Sekunde dieser langen und quälend langsamen Prozedur. In solchen Momenten wird die Verantwortung, die auf pflegenden Angehörigen lastet, fast körperlich spürbar.
Kunst und Literatur kennen letztlich nur zwei Themen: die Liebe und den Tod. Dieser Film verknüpft beide zu einem formvollendeten Meisterwerk, das in Cannes die Goldene Palme erhielt.