Ein Wiedersehen mit der «Tatort»-Welt der 1970/80er Jahre: Damals spielte jede zweite Folge der TV-Krimiserie in gutbürgerlichen Einfamilien-Bungalows in der westdeutschen Provinz. Mit gläsernen Schiebe-Türen hinaus zum Garten, Buchsbaum-Hecken und akkurat gestutztem Rasen. Sowie betuchten Bewohnern, von denen jeder eine Leiche im Keller hat.
Info
Was bleibt
Regie: Hans-Christian Schmid, 85 min., Deutschland 2012;
mit: Corinna Harfouch, Lars Eidinger, Ernst Stötzner
Jahrelang Psycho-Pharmaka nehmen
Von der Mutter Gitte (Corinna Harfouch) nichts weiß: Sie nimmt seit Jahrzehnten Psycho-Pharmaka gegen Depressionen. Seitdem ihre Kinder ausgezogen sind, hat sie wenig zu tun. Sohn Jakob (Sebastian Zimmler) eifert seinen Eltern nach: Dank Vaters Geld hat er in der Nähe eine Zahnarzt-Praxis eröffnet und mit Lebensgefährtin Ella ein Haus gebaut. Was ihn überfordert: Wenn weiter Patienten ausbleiben, muss er seine Praxis schließen.
Offizieller Film-Trailer
Mutter setzt Medikamente eigenmächtig ab
Bruder Marko (Lars Eidinger) wohnt dagegen in Berlin, wo er sein erstes Buch veröffentlicht hat; darüber ist seine Beziehung in die Brüche gegangen. Mit seinem kleinen Sohn Zowie besucht er die Eltern, um ein paar unbeschwerte Tage im Familienkreis zu erleben.
Daraus wird nichts: Gitte eröffnet ihren verblüfften Verwandten, dass sie ihre Medikamente eigenmächtig abgesetzt hat. Alle fürchten unabsehbare Konsequenzen – bis auf Marko, der ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben verteidigt. Während sie debattieren und konspirieren, kostet Gitte ihre neu gewonnene Freiheit aus: Sie verschwindet einfach.
Finanziell am Rockzipfel hängen
Also eine ganz normale kaputte Familie – das Zielpublikum könnte kaum größer sein. Unbehagen an «Heimfahr-Wochenenden» und Tabu-Themen, die um des lieben Friedens willen totgeschwiegen werden, sind Erfahrungen, die viele thirtysomethings zu Genüge kennen.
Wie den Schwebezustand von Marko und Jakob: eigentlich unabhängig, aber beruflich und privat nicht richtig etabliert, hängen sie finanziell noch am Rockzipfel. Abnabelung fällt ihnen schwer – wogegen sollten sie rebellieren? Zumal ihre liberalen Eltern die Kinder machen lassen; nur daheim bestimmt immer noch Papa, wo es lang geht. Und Mama fügt sich.
Familien-Aufstellung wie beim Gruppen-Therapeuten
Diese präzise beobachtete Konstellation setzt Regisseur Hans-Christian Schmid subtil in Szene. Dennoch bleibt sein Film seltsam leblos: Alle Konflikte werden nur aufgesagt und nicht ausgetragen. Anders als Ingmar Bergman, der einst die Lebenslügen in den Keimzellen der Gesellschaft schonungslos sezierte, belässt es Schmid mit einer Familien-Aufstellung wie beim Gruppen-Therapeuten: Gut, dass wir darüber gesprochen haben!
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Familien-Dramas "We need to talk about Kevin" von Lynne Ramsay mit Tilda Swinton
und hier eine Lobes-Hymne auf das rumänische Mutter-Kind-Drama “Periferic” von Bogdan George Apetri
und hier einen Beitrag über den norwegischen Mutter-Kind-Psychothriller “Babycall” von Pål Sletaune mit Noomi Rapace
«Was bleibt» klebt bleischwer am Boden
Seine Verfilmung von Benjamin Leberts Jugend-Roman «Crazy» wurde 2000 ein Hit. «Lichter» (2003) spielte unter zwielichtigen Grenzgängern an der Oder, «Requiem» (2006) im bigotten Frömmler-Milieu, wo der Teufel noch mit Exorzismus ausgetrieben wird. «Sturm» zeigte 2009 das Dilemma des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Rechtstreue mit Humanität zu vereinbaren: Alle Filme überzeugten Kritiker und waren Achtungs-Erfolge an der Kino-Kasse.
«Was bleibt» klebt jedoch bleischwer am Boden; paradoxerweise weil die Eltern so menschlich auftreten. Corinna Harfouch ist viel zu sehr Power-Frau, als dass man ihr das Heimchen am Herd abnehmen würde. Und Ernst Stötzner hat nichts vom herrschsüchtigen Patriarchen an sich – mit ihm ließe sich über alles reden. Erstklassige Schauspieler sabotieren durch ihre schiere Präsenz den tristen Plot: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.