Im Prolog wirkt der Film noch wie eine 50 Jahre alte Doku aus dem Ethnologie-Institut: Ein Afrika-Forscher streift im Tropenhelm durch die Savanne, vorbei an tanzenden Schwarzen im Bast-Röckchen; dann wirft er sich lebensmüde einem Krokodil zum Fraß vor – und Schluss.
Info
Tabu (2012) -
Eine Geschichte von Liebe und Schuld
Regie: Miguel Gomes,
111 min., Portugal/ Deutschland 2012;
mit: Ana Moreira, Carloto Cotta, Teresa Madruga
Rentner-Milieu im heutigen Lissabon
So führt die erste Hälfte des Films gemächlich ins Milieu pensionierter Herrschaften im heutigen Lissabon ein: mit Kaffeetrinken und kleinen Sorgen, ausbleibenden Au-Pair-Gästen und seltenen Besuchen alter Freunde. Unversehens liegt Dona Aurora im Sterben, fantasiert von einem Krokodil und verlangt nach einem gewissen Ventura. Pilar treibt ihn im Altersheim auf, doch sie kommen zu spät; nun erzählt Ventura den Hinterbliebenen Auroras Lebensgeschichte.
Offizieller Filmtrailer, englisch untertitelt
Krokodil-Baby als Geburtstags-Geschenk
Und der Film springt zurück in die Welt des Prologs: Portugals afrikanisches Kolonialreich Anfang der 1960er Jahre. Aurora (Ana Moreira) wächst am Fuß des «Mount Tabu» auf, der dem Kamerunberg ähnelt, aber in Mosambik liegen soll. Die verwöhnte Plantagenbesitzer-Tochter lässt sich von schwarzem Personal bedienen, geht auf Großwild-Jagd und heiratet einen betuchten Seitenscheitel-Träger; der schenkt ihr zum Geburtstag ein Krokodil-Baby.
Bis dieses Luxus-Geschöpf den Weltenbummler Ventura (Carloto Cotta) und mit ihm die große Liebe kennen lernt. Lange können beide ihre Affäre vor Auroras Gatten verheimlichen, doch dann fliegen sie auf und nehmen Reißaus. Auf der Flucht begeht Aurora eine Verfehlung, die sie für immer von Ventura trennt. The rest is history: Unabhängigkeits-Krieg und Repatriierung der Weißen nach Europa.
Kolonial-Konventionen statt Ritual-Tabu
Seinen Rückblick auf die Kolonial-Zeit inszeniert Regisseur Miguel Gomes als vertrackte Hommage an Friedrich Wilhelm Murnaus gleichnamigen Stummfilm-Klassiker von 1931: Damals war die Südsee-Schönheit Reri mit einem traditionellen Ritual-Tabu belegt, womit sie für Perlentaucher Matahi unerreichbar wurde. In Gomes‘ Version sind es Konventionen der Kolonial-Elite, die das Liebespaar von seinem Glück trennen.
Was dieses Melodram recht gestrig aussehen ließe, würde es der Regisseur nicht souverän in Stil-Elemente der Stummfilm-Ära einhüllen. Die Retro-Ästhetik wird dichter, je weiter der Film ins Vergangene ausgreift: Das Lissabon der Gegenwart erscheint schon schwarzweiß im alten 1:1,33-Format, aber gestochen scharf und glasklar vertont.
Wehmut mit leiser Ironie versetzt
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau
bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films
"Der Fluss war einst ein Mensch" von Jan Zabeil, ein Psycho-Drama in Afrika mit Alexander Fehling
und hier einen Beitrag über die Ausstellung
"Afrika mit eigenen Augen" über Reisen von Afrika-Pionieren im Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden.
Solche verspielten Details lassen die nostalgische Atmosphäre nie zu vergangenheitsselig werden: Sie beschwören eher das portugiesische Nationalgefühl saudade herauf, das Wehmut nach Verlorenem mit leiser Ironie versetzt. Was den Film gleichsam auch zum Abgesang auf Europas kulturelle Hegemonie über die restliche Welt macht: Die Epoche, in denen Eingeborene sprachlos die Händel der Abendländer beobachteten, ist passé.
Regisseur wollte altmodisch sein
«Tabu» erhielt im letzten Berlinale-Wettbewerb den Alfred-Bauer-Preis für ein Werk, das «neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet» – was den Regisseur erstaunte: «Ich wollte eigentlich einen altmodischen Film machen.» Doch seinem raffinierten remake gelingt formvollendet beides zugleich: vorwärts in die Vergangenheit!