
Alle weißen Flecken auf der Landkarte sind getilgt: Jeder Landstrich ist vermessen, kartiert, wird auf Mausklick von Google Maps angezeigt und scheint jederzeit erreichbar. Weit gefehlt: Nur weil Satelliten vom Weltraum aus ständig den Planeten überblicken, gilt das keineswegs für die Ameisen-Perspektive am Boden.
Info
Der Fluss war einst ein Mensch
Regie: Jan Zabeil, 83 min., Deutschland/ Botswana 2011;
mit: Alexander Fehling, Sariqo Sakega, Obusentswe Dreamar Manyima
Leiche im menschenleeren Sumpf-Gebiet
Ein Reisender kommt im Geländewagen an ein Flussufer, wo ihn ein alter schwarzer Fischer in seinem Kahn mitnimmt. Der Wasserlauf entpuppt sich als Teil eines riesigen Sumpf-Gebietes, das offenbar menschenleer ist. Dann stirbt der Alte plötzlich, und der Fremde ist auf sich allein gestellt; die Leiche lässt er zurück.
Offizieller Film-Trailer
Von Aktionismus zu brütender Gleichgültigkeit
Den Nachen durch die Fluten stakend, sucht er nach einem Ausweg aus dem feuchten Labyrinth; anfangs energisch, dann zunehmend verzagter. Am Sonnenstand kann er sich nicht orientieren: Über dem Gebiet hängt eine dichte Wolkendecke, so dass der Himmel in jeder Richtung gleich aussieht.
Der Mann hat Trinkwasser und wohl auch Verpflegung an Bord, doch nicht den geringsten Plan. Aus panischem Aktionismus verfällt er in dumpf brütende Gleichgültigkeit: Verkrochen in seinen Einbaum lässt er sich treiben. Nach Tagen – oder sind es Wochen? – erspäht er ein paar Hütten. Doch sie sind leer; keine Menschenseele in Sicht.
Verlorener als Robinson
Dann findet er endlich ein belebtes Dorf, dessen Bewohner ihn aber ignorieren. Bis er auf einen jungen Schwarzen trifft, der ein paar Brocken Englisch spricht. Er entpuppt sich als Sohn des Fischers – und ist entsetzt, als ihm der Gestrandete zu verstehen gibt, er habe dessen sterbliche Überreste den Krokodilen überlassen. Der Dorf-Gemeinschaft droht großes Unheil: Beide müssen losziehen, um den Leichnam wieder zu finden und regulär zu bestatten.
Eine moderne Robinsonade, möchte man meinen. Robinson wusste jedoch sehr gut, wo er sich befand: Nach wenigen Tagen hatte er sein Eiland erschlossen und machte es sich nutzbar. Die Hauptfigur in Zabeils Film verliert jedoch jede Gewissheit. Selbst die Einheimischen, die er aufspürt, verhalten sich zunächst weder freundlich noch feindlich, sondern indifferent. Für sie scheint er nicht zu existieren – in seiner Lage eine denkbar grausame Erfahrung.
Improvisation im weltgrößten Binnen-Delta
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung "Letzte Ölung Nigerdelta" mit Fotografien der Umwelt-Katastrophe in Nigeria im Museum für Völkerkunde, München
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Afrika mit eigenen Augen" über Reisen von Afrika-Pionieren im Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden
und hier einen Beitrag über die Ausstellung “Momente des Selbst: Porträt-Fotografie und soziale Identität” mit afrikanischer Fotografie in The Walther Collection, Neu-Ulm.
Regisseur Zabeil und sein Hauptdarsteller haben sich ähnlichen Strapazen ausgesetzt: Sie drehten mit kleinem Team und spartanischer Ausrüstung im Okavango-Delta im Nordwesten von Botswana. Im größten Binnen-Delta der Erde haben sie ohne Drehbuch improvisiert. Ihr Verfahren, sich vorsichtig an ihr Sujet heranzutasten, sieht man dem Film an – was ihn äußerst authentisch wirken lässt.
Extrem-Erfahrung ohne Lebensgefahr
Die Monotonie des Ausharrens in Wasser- und Gras-Wüsten wie die Konfrontation mit einer unzugänglichen Kultur werden fast physisch spürbar, ohne monoton oder unzugänglich zu geraten. Nur die Geschichtslosigkeit der Hauptfigur befremdet: Ihre Motivation, alles zu riskieren, bleibt völlig unklar. Dennoch: Dieser Film vermittelt eine der extremsten Erfahrungen, die Kino bieten kann – ohne Lebensgefahr.