Was braucht man für ein echt sowjetisches Heldenepos? Vor allem den richtigen Helden: einen charismatischen Kraftkerl mit visionärem Weitblick. Er kennt sich überall aus, räumt jedes Hindernis beiseite und gewinnt alle Herzen im Handumdrehen. Hier heißt er Marat (Egor Beroev); im gestreiften Matrosen-Leibchen mit Schiffermütze sieht er aus wie der Sohn von Hans Albers.
Info
Waiting for the Sea
Regie: Bakhtiar Khudoijnazarov,
109 Min., Kasachstan/ Russland/ Deutschland 2012;
mit: Egor Beroev, Detlev Buck, Anastasia Mikulchina
Feuriges Weib in liebestoller Raserei
Fürs Herz muss ein feuriges Weib her. Das gibt hier Tamara (Anastasia Mikulchina) als kleine Schwester von Marats gestorbener Frau; sie hat ihren Schwager schon immer angehimmelt. Als er nach zehn Jahren wieder auftaucht, entbrennt ihre Leidenschaft aufs Neue. Sie verfolgt ihn mit liebestoller Raserei, obwohl der Held sie abweist; er muss ja seine Mission erfüllen.
Offizieller Filmtrailer OV
Statt Faschisten oder CIA nun Mafiosi
Denn es gibt ein Problem: Früher waren das Sabotage-Akte des Klassenfeindes oder die nächste Schlacht im Großen Vaterländischen Krieg. Später kamen ehrgeizige Planvorgaben oder Schwierigkeiten in der Produktion hinzu. Da variiert der Film gängige Heldentaten: Marat will sein längst gesunkenes Schiff, das nun im ausgetrockneten Aralsee auf Sand liegt, bis zum weit entfernten Wasser schleppen – mit Muskelkraft. Bitte jetzt an Sisyphos denken!
Fehlen noch die Schurken: Faschisten in Wehrmachts-Uniformen oder CIA-Agenten haben ausgedient. Ihren Job übernehmen in postsowjetischen Zeiten gewöhnliche Verbrecher; als Bande aus Schläger-Typen und Schmuggler-Mafiosi. Woher sie kommen und was sie wollen, ist egal: Hauptsache, sie prügeln und ballern ohne Vorwarnung, um nach Belieben unmotivierte Action-Szenen einzustreuen.
Einheimische nur als malerische Komparsen
Hintergrund
Lesen Sie hier einen Beitrag über das Festival “Kino der Kunst 2013” in München mit dem kasachischen Siegerfilm "Transoxania Dreams" über die Austrocknung des Aralsees von Almagul Menlibayeva
und hier einen Bericht über den Film “Die langen hellen Tage” von Nana Ekvtimishvili + Simon Groß über Teenager in Georgien während der chaotischen 1990er Jahre
und hier eine Kritik des Films “Wyssozki - Danke, für mein Leben” - Biopic über den berühmtesten Sowjet-Liedermacher in Usbekistan von Pjotr Buslov
und hier eine Besprechung des Films “Baikonur“ - märchenhafte Tragikomödie über den Weltraum-Bahnhof in Kasachstan von Veit Helmer.
Doch der Film könnte auch in Sibirien oder der Mongolei spielen: Einheimische treten nur als komische Typen in malerischen Trachten auf – noch eine sowjetische Kino-Tradition. Deren latenter Rassismus scheint hier auf, wenn die Eingeborenen ihre rückständigen Bräuche vorführen dürfen: etwa eine Schamanin mit Liebeszauber-Hokuspokus oder eine Kneipen-Combo mit exotischen Instrumenten für die obligatorische Tanzeinlage.
Wunderschöne Öko-Katastrophe
Solche Klischees recycelt Regisseur Khudoijnazarov bedenkenlos. Er ist in Westeuropa kein Unbekannter: Sein usbekisches Heiratsschwindler-Märchen „Luna Papa“ mit Moritz Bleibtreu bekam 1999 gute Kritiken und fand rund eine halbe Million Zuschauer, davon ein Drittel in Deutschland. Doch seine nächsten beiden Filme kamen nicht mehr ins westliche Ausland. Offenbar produziert Khudoijnazarov nun für den russischen Markt: Dort leben Millionen mittelasiatischer Emigranten.
Oder die Mitwirkung von Detlev Buck hat dafür gesorgt, dass der Film einen deutschen Verleih fand. Wer die Versatzstücke eines lupenreinen sowjetischen Heldenepos‘ in der Verpackung eines arthouse-Dramas erleben will, ist mit „Waiting for the Sea“ bestens bedient. Für alle anderen bleiben nur erhabene Landschaftsaufnahmen der unwirtlichen Salzwüste, die früher der Aralsee-Boden war: Auch Öko-Katastrophen können wunderschön aussehen.