
Es ist vermutlich der längste Film, der jemals auf der Berlinale gezeigt wurde – und damit ist nicht der achtstündige Wettbewerbs-Beitrag des Filipino Lav Diaz gemeint, der dafür prompt den Preis für „neue Perspektiven der Filmkunst“ erhielt. Ulrike Ottinger legt noch die Hälfte drauf: Ihre Nordmeer-Saga „Chamissos Schatten“ dauert sage und schreibe zwölf Stunden.
Info
Chamissos Schatten - Eine Reise zur Beringsee in drei Kapiteln
Kapitel 1: Alaska + die Aleutischen Inseln - 193 min.
Kapitel 2, Teil 1: Tschukotka - 192 min.
Kapitel 2, Teil 2: Tschukotka + die Wrangelinsel - 156 min.
Kapitel 3: Kamtschatka + die Beringinsel - 177 min.
Regie: Ulrike Ottinger,
insgesamt 718 Min., Deutschland 2016;
mit: Ulrike Ottinger, Burghart Klaußner, Thomas Thieme, Hanns Zischler
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Acht Stunden Taiga, sechs für Balkan
Ulrike Ottinger ist die Ethnologin unter den deutschen Filmemachern. Seit Mitte der 1980er Jahre durchstreift sie entlegene Weltgegenden, meist in Asien, und hält die Schauspiele des Alltäglichen fest. Dazu nimmt sie sich viel Zeit: 1992 brachte sie aus der „Taiga“ acht Stunden Film mit. Ihre „Südostpassage“ über den Balkan, die 2002 auf der documenta 11 gezeigt wurde, währte sechs Stunden. Nun also das Doppelte – als Resultat einer dreimonatigen Schiffsreise mit zwei Assistenten im Sommer 2014 durch den Nordpazifik.
Als Wegweiser dienen Ottinger historische Aufzeichnungen. 1740 segelte der dänische Marineoffizier Vitus Bering im Auftrag des Zaren von der Halbinsel Kamtschatka aus nordwärts; sein deutscher Bordarzt Georg Wilhelm Steller führte Tagebuch. 1778 kreuzte James Cook zwischen Alaska und Sibirien. 1815 bis 1818 fuhr Adelbert von Chamisso auf dem russischen Kriegsschiff „Rurik“ mit, das ebenfalls die Gestade der Beringsee erkundete. Aus den drei Logbüchern lesen die Schauspieler Burghart Klaußner, Thomas Thieme und Hanns Zischler ausführlich vor.
Offizieller Filmtrailer
Karge, aber einzigartige Reize
Die Seefahrer suchten nach der Nordost- oder Nordwestpassage, also nach dem Wasserweg um Asien oder Amerika herum. Vergeblich – zumindest solange, bis das arktische Eis aufgrund der Klimaerwärmung geschmolzen ist. Ottinger sucht dagegen nach den Spuren, die sie hinterlassen haben; in dieser riesigen, unwirtlichen und kaum besiedelten Polarregion, die seit jeher so fasziniert wie abschreckt. Ihre Reize sind karg, aber einzigartig.
Vor 10.000 Jahren war Sibiriens Ostspitze durch eine Landbrücke mit Alaska verbunden. Dass sie geologisch eine Einheit bildeten, sieht man noch heute: Schroffe Gebirgsketten fallen mit steilen Klippen ins Meer ab. Im fahlen Licht des Nordens schlagen Wellen auf körnige Kieselstrände, die sich bis zum Horizont ziehen. Landeinwärts bedeckt kurzes Gras alle Hügel, durchzogen von unzähligen Rinnsalen, Bächen und Flüssen. Weiter südlich finden sich Buschwerk und niedrige Nadelwälder.
Meditatives Zeitmaß mit Sogwirkung
Diesem Ozean aus Grau-, Blau- und Grüntönen gewinnt Ottinger immer neue Ansichten ab: in statischen Einstellungen mit wenigen, ruhigen Schwenks. Sie passen zu einer Landschaft, die sich seit der letzten Eiszeit kaum verändert hat, weil in der Kälte alle Stoffwechselprozesse sehr langsam ablaufen. Ihr Zeitmaß wirkt meditativ und entfaltet allmählich visuelle Sogwirkung.
Dabei ist diese Gegend nicht nur ein einheitlicher Natur-, sondern auch Kulturraum. Die indigenen Völker auf beiden Seiten der Beringstraße – ob Aleuten, Tschuktschen oder Eskimos mit vielen Untergruppen – sind eng miteinander verwandt; ihre Sprachen und Riten ähneln sich. Traditionell lebten sie am, mit und vom Meer, das sie mit Nahrung und Kleidung versorgte; an Land wurden nur Beeren gesammelt. Allein Rentier-Züchter zogen mit ihren Herden durch die Weiten der Tundra.
50-fach trocknende Lachse
Ihre Nachfahren sucht die Regisseurin auf; geduldig lässt sie sich erklären, welche Fischarten, Robben und Wale wann gefangen und verarbeitet werden. Unermüdlich schaut sie dabei zu, wie alles in den Kochtopf wandert, zubereitet und verspeist wird. Ottinger ist vom Essen in allen Variationen wie gebannt; gefühlte 50 Mal nimmt sie auf, wie Lachshälften an der frischen Luft trocknen.
Dagegen kann sie mit Zeugnissen moderner Zivilisation weniger anfangen. Zwar fahren die Fähr- und Versorgungs-Schiffe, mit denen sie unterwegs ist, von Hafen zu Hafen, doch offenbar geht sie ungern von Bord. Wenn sie es tut, bleibt sie eher auf Distanz, filmt in Küstenstädtchen die Häuser von außen, geht aber selten hinein.
Vor einem sibirischen Museum über frühere Gulag-Arbeitslager begnügt sich Ottinger mit der Fassade. In einer Fischfabrik beobachtet sie die Beschäftigten nur während der Rauchpause. Eingehend beschreibt sie ein off-road-Ungetüm, mit dem sie an Land über Stock und Stein braust, aber zu sehen ist es nur aus der Ferne.