
Was für ein Leben! Lou Andreas-Salomé kommt 1861 als Tochter eines hugenottischen Offiziers und einer deutsch-dänischen Mutter in Sankt Petersburg zur Welt; sie lernt drei Sprachen und genießt eine umfassende Bildung. Die freiheitsliebende und wissbegierige 16-Jährige wird von Pastor Hendrik Gillot in Philosophie und Religionsgeschichte eingeführt. Als er sich ihretwegen scheiden lassen und sie heiraten will, lehnt sie verstört ab; sie gelobt, ihr Dasein dem Geistigen zu widmen und der Ehe zu entsagen.
Info
Lou Andreas-Salomé
Regie: Cordula Kablitz-Post,
113 Min., Deutschland/ Österreich 2016;
mit: Katharina Lorenz, Nicole Heesters, Alexander Scheer
Weitere Informationen zu Lou Andreas-Salomé
Heirat ohne Hochzeitsnacht
1885 erscheint unter Pseudonym ihr Romandebüt „Im Kampf um Gott“. Das Buch wird ein Erfolg, seine Autorin zum angesehenen Gast in Berliner Gelehrten-Zirkeln. Lou ist mit dem Dramatiker Gerhart Hauptmann, dem Publizisten Maximilian Harden und anderen Geistesgrößen befreundet. Im Folgejahr macht ihr der Orientalist Friedrich Carl Andreas einen Heiratsantrag, den sie zögernd annimmt – unter der Bedingung, die Ehe nie zu vollziehen. Das Paar lebt zusammen, während beide Affären mit anderen Partnern haben.
Offizieller Filmtrailer
Mit Rilke nach Russland, mit Freud zur Psychoanalyse
1897 wird Lou in München vom 21-jährigen Nachwuchs-Dichter René Maria Rilke stürmisch umworben; sie rät ihm, seinen Vornamen in Rainer zu ändern, und wird seine Geliebte. Nach drei intensiven Jahren und zwei gemeinsamen Russland-Reisen trennt sie sich Anfang 1901 von ihm, bleibt aber bis zu Rilkes Tod 1926 seine Vertraute.
1903 ziehen Lou und ihr Gatte nach Göttingen, weil er an der Uni eine Professur erhält. 1911 trifft sie bei einem Kongress auf Sigmund Freud und schließt sich dem Kreis seiner Schüler an; er schätzt ihre originellen Gedanken sehr. Ab 1915 praktiziert sie als Psychoanalytikerin und verfasst etliche Fachaufsätze. 1937 stirbt sie an Krebs; die Nazis beschlagnahmen ihre Bibliothek.
TV-Produzentin von Schlingensief-talk show
Andreas-Salomé war eine der außergewöhnlichsten Erscheinungen ihrer Epoche; ihre geistige Unabhängigkeit und Autonomie sind beispiellos. Die umfangreiche Liste ihrer Publikationen zu Fragen der Literatur, Philosophie, Psychologie und Frauenrechte zeugt vom weit gespannten Horizont ihrer Interessen. Doch Regisseurin Cordula Kablitz-Post verkürzt ihre facettenreich schillernde Biographie auf einen Aspekt: Männergeschichten. Eine universal gebildete Intellektuelle wird zur femme fatale im fin de siècle verzwergt.
Womöglich, weil der Regisseurin eine adäquate Bildsprache für ihre Heldin fehlt. Kablitz-Post hat lange im Fernsehen gearbeitet; für öffentlich-rechtliche Kanäle drehte sie mehr als ein Dutzend Porträts mit Titeln wie „Deutschland, deine Künstler“. Zwar produzierte sie auch 1997 die irre „Talk 2000“-show von Christoph Schlingensief, doch von dessen anarchischem esprit ist hier nichts zu spüren.
Alle Männer sind liebestolle Deppen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika" – beeindruckendes Biopic von Maria Schrader mit Josef Hader
und hier eine Besprechung des Films "Eine dunkle Begierde" von David Cronenberg über die Entstehung der Psychoanalyse aus der Rivalität zwischen Sigmund Freud + C.G. Jung
und hier einen Bericht über den Film "Tabu– Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden" von Christoph Stark über die inzestuöse Liebe des Dichters Georg Trakl + seiner Schwester
und hier einen Beitrag über den Film "Die geliebten Schwestern" – brillantes Biopic über Friedrich Schillers Dreiecks- Beziehung von Dominik Graf.
Dagegen weiß die Regisseurin genau, was TV-Redakteure mögen: wortreich vorgetragene Herzens-Verwirrungen, die für burleske Verwicklungen sorgen. Also stolpern alle Männer, die Lous Weg kreuzen, als liebestolle Deppen umher: vom Pastor über Paul Rée, Nietzsche und Rilke bis zu Ehemann Andreas und Ernst Pfeiffer, ihrem Sekretär der letzten Jahre. Nur Freud bewahrt etwas contenance. Kein Wunder, dass Andreas-Salomé lange keine Lust auf Sinnlichkeit hat.
Nietzsche von Schnauzer entstellt
Damit das verquasselte tit for tat nicht zu öde gerät, werden CGI-animierte Bildpostkarten eingestreut, in denen Lou herumtollt; die Reiselustige hielt es nie dauerhaft an einem Ort. Der Film hastet hinterher und klappert brav alle Stationen ihres Lebens ab; da bleibt für jede einzelne wenig Zeit – geschweige denn für Themen und Inhalte ihrer Schriften.
Mit dem fast schon frauenfeindlichen Resultat, dass die äußerst vielseitige femme de lettres auf ihre Liebeshändel reduziert wird. Dieses biedere Machwerk hat Lou Andreas-Salomé nicht verdient – und Alexander Scheer als Nietzsche nicht den grotesken Vorhang-Schnauzer, der ihn entstellt.