Ist das Ironie oder clevere marketing-Strategie? Das Werbematerial zu diesem Film ist so gestaltet wie bei trivialer teenager fantasy; von der „Twilight“-Trilogie und anderen Vampir-Schmonzetten bis zu action-Spektakeln wie „Die Tribute von Panem“. Auf dem Plakat prangt der Titel in güldenen Metall-Lettern; darüber werden beide Hauptdarsteller in einer Art Lichttunnel mit Moosbesatz dramatisch ausgeleuchtet. Deutsche Romantik goes CGI.
Info
Das kalte Herz
Regie: Johannes Naber,
119 Min., Deutschland 2016;
mit: Frederick Lau, Henriette Confurius, Moritz Bleibtreu, Milan Peschel
Klassische DEFA-Verfilmung von 1950
Damit läuft Naber nicht zum blockbuster-Kommerz über, im Gegenteil: Er begreift sich als engagierter Regisseur. Der 45-jährige will gewichtige Themen und Probleme so darstellen, dass sie Kopf und Herz zugleich ansprechen. Dafür ist die Wahl eines 190 Jahre alten Stoffes weniger abseitig, als es zunächst scheint. Immerhin zählt das Märchen von Wilhelm Hauff neben ein paar evergreens der Brüder Grimm zu den wenigen, deren Handlung noch halbwegs bekannt ist – nicht zuletzt wegen der klassischen DEFA-Verfilmung von 1950.
Offizieller Filmtrailer
Schwarzwald als Schlachtfeld der Leidenschaften
Doch Nabers Adaption ist kein remake. Er strafft Hauffs Vorlage, erfindet Nebenfiguren hinzu und betont vor allem den zeithistorischen Kontext: den Aufstieg einer so agilen wie rücksichtslosen Unternehmer-Schicht in der beginnenden Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts. Wobei die Grundzüge der Geschichte ebenso erhalten bleiben wie ihr romantischer Zauber: der Schwarzwald als Schlachtfeld elementarer Leidenschaften.
Köhler-Sohn Peter Munk (Frederick Lau) liebt die schöne Glasmacher-Tochter Lisbeth (Henriette Confurius), aber er ist zu arm, um Hochzeit zu halten. Da gewährt ihm das tief im Wald hausende Glasmännchen (Milan Peschel) drei Wünsche: Peter will der beste Tänzer im Dorf sein, eine prächtige Glashütte besitzen und soviel Geld in den Taschen haben wie der reiche Holzhändler Etzel.
Gesichts-Tätowierung + Körper-Bemalung
Mit kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung kommt er nicht weit. Aus Verzweiflung verkauft Peter dem Holzfäller-Michel (Moritz Bleibtreu) sein Herz; an dessen Stelle setzt dieser Höhlenmensch ihm einen Stein in die Brust ein. Gefühllos geworden, geht er nach Holland, kehrt später als reicher Kaufmann zurück und heiratet Lisbeth. Sie ist jedoch von ihrem kaltherzigen Gatten abgestoßen; bei einem Streit stirbt sie. Nun will Peter um jeden Preis sein echtes Herz zurück.
Hintergrund
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Parabel für heutige Weltwirtschaft
So treibt Regisseur Naber dem Märchen alles biedermeierlich Possierliche aus. Stattdessen präpariert er die sozioökonomische Grundkonstellation heraus: Niedergang der Subsistenzwirtschaft und Entfesselung zügellosen Profitstrebens im Frühkapitalismus samt Klassenkampf und Selbstentfremdung. Man muss nur die Köhlerhütten durch Drittwelt-slums oder Hartz-IV-Sozialwohnungen und die Holzhändler durch Handelskonzerne oder investment banker ersetzen: Dann erweist sich Hauffs Märchen als verblüffend aktuelle Parabel über die Verhältnisse in der heutigen Weltwirtschaft.
Dabei wird sie nicht auf ein dröges Lehrstück reduziert: Erstklassige Schauspieler und eine einfallsreiche Inszenierung, die so naturgetreu wie zeitlos entrückt wirkt, hauchen dem in Bildfloskeln erstarrten fantasy genre neues Leben ein. Indem sich Naber auf dessen etymologische Herkunft besinnt: Viel Fantasie verleiht dem Film visuelle Poesie.
EU als Nibelungen-Sage
Mit solcher Einbildungskraft könnte der Regisseur noch ganz andere Sagen in die Gegenwart katapultieren: Wie wäre es mit einer Neuverfilmung der „Nibelungen“ als Gleichnis für gegenwärtige Zustände in der EU?