„Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert“: Den Titel dieser Peking-Oper aus Maos Kulturrevolution hat kein Europäer mehr beherzigt als Uli Sigg. Er kam als Pionier mit wenigen Kollegen nach China und eroberte dort ein Terrain nach dem anderen. Der Schweizer wurde Vorzeige-Unternehmer, Diplomat und gefragter Strippenzieher mit direktem Draht zu den Mächtigen; zugleich baute der heute 71-Jährige die wohl bedeutendste Sammlung chinesischer Gegenwartskunst auf.
Info
The Chinese Lives
of Uli Sigg
Regie: Michael Schindhelm,
93 Min., VR China/ Schweiz 2016;
mit: Uli Sigg, Ai Weiwei, Zeng Fanzhi, Wang Guangyi
Bislang zwei Ostasien-Dokus
Nebenher hat er ein Dutzend Bücher geschrieben und zwei Dokumentarfilme über Ostasien gedreht: einen in der Wüste Gobi, den anderen über das Stadion für die Olympischen Spiele in Peking 2008. Diesen „Vogelnest“ genannten Bau entwarfen die Schweizer Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron unter Mitwirkung des Künstlers Ai Weiwei. Alle drei treten auch in Schildhelms Doku-Porträt von Uli Sigg auf.
Offizieller Filmtrailer
Erstes Joint Venture in China
Wer sich ein wenig für chinesische Gegenwartskultur interessiert, trifft auf andere bekannte Namen: Ein Dutzend Künstler aus der ersten Reihe schwärmt unisono von Sigg – weniger als Schöngeist, sondern als Macher. Außer Kunstkatalogen besitze der eingefleischte Zeitungsleser wahrscheinlich keine Bücher, spöttelt ein Interviewter lächelnd; aber im Ausloten und Beschreiten neuer Wege sei er unschlagbar.
1979 schickte der Aufzug-Hersteller Schindler Sigg in die Volksrepublik, um dort ein Joint Venture aufzubauen. Ein Jahr später wurde er Vizepräsident des ersten Gemeinschafts-Unternehmens eines westlichen Konzerns mit einem chinesischen Staatsbetrieb. Die 1980er Jahre – die Phase zwischen Maos Tod und marktwirtschaftlichen Reformen – zeigt Regisseur Schindhelm am anschaulichsten: mit Propaganda-Bildern und Archiv-Aufnahmen, während Sigg von bizarren Details seiner damaligen Tätigkeit berichtet.
Durch Kunst fremdes Denken verstehen
Seine Grundregel, um Ansehen zu gewinnen, lautete: Nie jemanden unterbrechen! So hätten Sitzungen von Führungsgremien bis zu 20 Stunden gedauert, erzählt er: Dabei sei oft so viel gequalmt worden, dass die gegenüberliegende Wand im Dunstnebel verschwand. Rasch sei ihm klar geworden, dass hiesige und westliche Wertmaßstäbe unvereinbar waren – Dolmetscherinnen, die weniger förmlich auftraten, wurden sofort ausgetauscht. Andere traf es härter: An einer Fabrikmauer hingen Steckbriefe von Hingerichteten zur Abschreckung.
Dennoch genossen die Bürger bald kleine Freiheiten. Bis Studentenproteste 1989 beim Tiananmen-Massaker blutig zerschlagen wurden: Die KP zog die Zügel wieder straff an. Um diesen fremden Denkkosmos besser zu verstehen, wandte Sigg sich in den 1990er Jahren der zeitgenössischen Kunst zu. Außer ihm habe sich damals kaum ein Sammler dafür interessiert, schon gar kein westlicher, sagt er: Dadurch fand er direkten Zugang zu etlichen maßgeblichen Vertretern.
Atelier-Besuche ab zehn Uhr abends
Was ihm als Schweizer Botschafter von 1995 bis 1999 noch leichter fiel; nun gehörten solche Kulturkontakte zu seinen Aufgaben. Jeden Abend um sechs Uhr habe er mit chinesischen Offiziellen diniert, anschließend um acht Uhr selbst einen Empfang gegeben, erzählt Sigg: Ab zehn Uhr konnte er Künstler in ihren Ateliers besuchen. So brachte er Ai Weiwei mit Harald Szeemann zusammen, dem Direktor der Venedig-Biennale 1999; es war der Auftakt zu Ais internationaler Karriere.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "China 8: Zeitgenössische Kunst aus China an Rhein und Ruhr" - umfassende Gesamtschau in Museen von acht Städten
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Die 8 der Wege: Kunst in Beijing" - exzellenter Überblick über Gegenwartskunst in China in den Uferhallen, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "What a wonderful World" - zeitgenössische Fotografie aus China in der kunst.licht gallery, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung “Ai Weiwei – Evidence” – bislang größte Ausstellung des Künstlers im Martin-Gropius-Bau, Berlin
Wenig konkrete Kunst-Einblicke
Das betont er mit derselben regungslos konzentrierten Miene wie bei jeder Aussage. Ob vor 30 Jahren oder heute: Auf allen Aufnahmen macht dieser etwas steif, aber stets korrekt und entschieden auftretende Mann den Eindruck, als ließe er sich nie in die Karten schauen. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ihn fernöstliche Gesprächspartner schätzen: Diese Langnase weiß ihre Absichten ebenso diskret zu kaschieren wie sie selbst.
Insofern vermittelt der Film einiges über Kommunikations-Erfolg in China. Etwas zu kurz kommt jedoch die Kunst: Er habe eine Kollektion aller wegweisenden Strömungen seit den 1980er Jahren zusammengetragen, erklärt Sigg – welche das waren, erfährt man nicht. Dafür den Marktwert besonders hochpreisiger Werke; was Wirtschaftsleute an Kunst eben vor allem interessiert. Auch die Künstler erzählen zwar eindrücklich von prägenden Erfahrungen und Erinnerungen – doch wie sie diese in ihre Werke umsetzen, führen nur stumme Schnittbilder vor. Vorwiegend mit grellbunten Gesichtern in Polit-Pop-Manier wie beim „Zynischen Realismus“ um die Jahrtausendwende; jüngere Tendenzen bleiben weitgehend ausgespart.
Schenkung von 1500 Werken
Breiten Raum erhält hingegen Siggs letzte Großtat: Er übergab fast 1500 Werke und damit zwei Drittel seiner Sammlung an Hongkong. Dort werden sie ab 2019 ausgestellt: im „M+ Museum“, dass das Büro Herzog & Meuron im brandneuen Stadtteil „West Kowloon Cultural District“ plant, der zurzeit aus dem Boden gestampft wird. Wie und warum es zur Schenkung kam, schildert die Doku ausgiebig – was in dieser Enzyklopädie chinesischer Gegenwartskunst zu sehen sein wird, muss man sich in zwei Jahren vor Ort selbst anschauen.