Anfang der 1990er Jahre war Tonya Harding die zweitbekannteste US-Bürgerin der Welt – nach Präsident Bill Clinton. Die Eisprinzessin aus der weißen Unterschicht hatte sich mit hartem Training zur Weltspitze hochgearbeitet. Dann zerschlug ein dilettantisches Attentat auf ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan 1994 ihre Karriere: Fortan war Harding als „Eishexe“ verschrien.
Info
I, Tonya
Regie: Craig Gillespie,
120 Min., USA 2017;
mit: Margot Robbie, Allison Janney, Sebastian Stan
Alki-Sado-Mutter
Die kleine Tonya ist auf Schlittschuhen ein Naturtalent; bereits mit fünf Jahren sticht sie ältere Eisläuferinnen aus. Das athletische Mädchen hat jedoch nichts mit dem Klischee einer grazilen Eisprinzessin zu tun: Sie stammt aus einer völlig kaputten Familie. Ihr Vater ist arbeitsunfähig; die alkoholkranke Mutter Lavona (überragend: Allison Janney, die dafür einen Oscar als beste Nebendarstellerin erhielt) kellnert, um das Eislauf-Training zu bezahlen. Mit sadistischer Härte treibt sie ihre Tochter zu eiserner Disziplin an.
Offizieller Filmtrailer
Eislauf-Vizeweltmeisterin 1991
Tonya lernt früh, dass sie für sich selbst sorgen muss: Sie näht sich etwa eine Pelzjacke aus Fellen von selbst geschossenen Kaninchen. Ihre Mutter motiviert sie mit Ohrfeigen und Beleidigungen; mit 15 Jahren muss Tonya die Schule verlassen, um sich allein auf ihr Training zu konzentrieren. 1986 nimmt sie erstmals an US-Meisterschaften teil; im Folgejahr springt sie erstmals zwei dreifache Axelsprünge in einer Eislaufkür.
Lauftechnisch ist sie auf dem Eis allen Kolleginnen überlegen. Doch ihre aggressiven Auftritte in selbst geschneiderten Kostümen zu harter Rockmusik finden bei konservativen Preisrichtern wenig Gegenliebe: Tonya fühlt sich von ihnen systematisch unterbewertet. Bei ihrer ersten Weltmeisterschaft 1991 schafft sie es dennoch auf den zweiten Platz.
Lebenslänglich-Urteil nach Attentat
Plötzlich wurde sie zum Medien-Liebling; als Verkörperung des amerikanischen Traums, dass jeder es ganz nach oben schaffen kann. Ihre Familie beeindruckt das wenig: Mutter Lavona erniedrigt sie ohne Unterlass, während Ehemann Jeff Gillooly (Sebastian Stan) – ihre Jugendliebe – sie häufig schlägt. Ihm macht ihre zunehmende Unabhängigkeit zu schaffen.
Der gewalttätige Gatte plant auch das stümperhafte Attentat auf ihre US-Konkurrentin Nancy Kerrigan vor den Olympischen Spielen 1994. Es geht gründlich schief, mit maximalem Kollateralschaden: Tonya darf noch bei den Spielen antreten, doch kurz darauf endet ihre Karriere. Obwohl sie jedes Mitwissen leugnet, wird sie rechtskräftig verurteilt – und lebenslänglich von allen Eislauf-Wettbewerben ausgeschlossen. Erst kürzlich räumte sie ein, die kriminellen Pläne ihres Ex-Mannes zumindest geahnt zu haben.
Verständnis für brutale Hinterwäldler
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki" – entschleunigtes Boxer-Drama aus Finnland von Juho Kuosmanen
und hier einen Bericht über den Film "Härte" – Biopic über einen Karate-Weltmeister + Missbrauchs-Opfer von Rosa von Praunheim
und hier eine Besprechung des Films "Die Kinder des Fechters" – originelles Drama über estnischen Fechtsportler in der Stalin-Ära von Klaus Härö
und hier einen Beitrag über den Film "Zeit für Legenden - Race" – gelungener Sport-Historienfilm über Jesse Owen + die Olympiade 1936 in Berlin von Stephen Hopkins.
Manchmal wendet sich Tonya mitten im Geschehen direkt an die Zuschauer. Ihr Durchbrechen der Handlungsillusion schafft Distanz und erzeugt mitunter grimmigen Humor, der das brutale Geschehen erträglich macht. Dabei kann man sich mit keiner Figur wirklich identifizieren; sie sind allesamt geistig unterbelichtete Hinterwäldler mit Neigung zur Brutalität. Dennoch gelingt es Regisseur Gillespie, mit seinem filmischen Patchwork durchaus Verständnis und Bedauern für die Akteure zu wecken – selbst für die abgrundtiefe seelische Grausamkeit der Mutter.
Am Pranger für die Einschaltquote
Das liegt auch an Hauptdarstellerin Margot Robbie: Sie absolvierte für ihre Rolle ein hartes Training, um die meisten der mitreißenden Eislaufszenen selbst laufen zu können. Neben der Spitzensport-Milieustudie beleuchtet Regisseur Gillespie auch das Verhalten der Medien; allerdings nur in Ansätzen. Der Harding-Skandal wurde zum ersten Gegenstand von TV-Dauerberichterstattung – weil neue US-Kabelsender Hingucker für ihre Einschaltquoten brauchten.
Jahrelang als herzloses Monster an den Pranger gestellt zu werden, war für die reale Tonya Harding nach eigener Aussage der schlimmste Missbrauch; schwerwiegender als die Misshandlungen durch ihre Angehörigen. Das deutet der Film nur in wenigen kurzen Szenen an. Verständlich: Auch seine Macher nutzen ihr trauriges Schicksal als Rohstoff für ein Produkt der Unterhaltungsindustrie.