„Delete“ – oder doch lieber „Ignore“? Mit dieser Frage sehen sich jene Menschen, die im Auftrag von Facebook, Youtube und Co. im Internet aufräumen, etwa 25.000 Mal am Tag konfrontiert. Die Aufgabe dieser so genannten „Content-Moderatoren“ besteht darin, binnen Sekunden zu entscheiden, welche Inhalte die Internetnutzer überhaupt zu Gesicht bekommen. Nur drei Fehlentscheidungen pro Monat sind erlaubt.
Info
The Cleaners
Regie: Hans Block + Moritz Riesewieck
88 Min., Deutschland/ Brasilien 2018;
Fragwürdige Richtlinien
Anfang 2016 fiel etwa ein Gemälde der Künstlerin Illma Gore der Zensur zum Opfer; zudem wurden alle ihre Nutzerkonten gesperrt. Später hing das Bild, auf dem Donald Trump mit Micro-Penis zu sehen ist, dann in der renommierten Maddox Gallery in London. Ein Fall von vielen, in dem sich die Richtlinien der „Social-Media“-Unternehmen als fragwürdig erwiesen.
Offizieller Filmtrailer
Dystopisches Paralleluniversum
Ein Großteil der Schattenindustrie, die sich mit derartigen Entscheidungen befasst, ist in Manila angesiedelt. Zehntausende Filipinos arbeiten hier in Löschzentren und beschäftigen sich mit europäischen und US-amerikanischen Netzinhalten. Trotz der Verpflichtung zur Verschwiegenheit gewähren einige von ihnen im Dokumentarfilm „The Cleaners“ ebenso spannende wie verstörende Einblicke in ihre Arbeit.
Schlimme Bilder bleiben dem Zuschauer weitgehend erspart. Doch man sieht die Verstörung in den Gesichtern der Moderatoren, die in Hochhaus-Etagen über der Stadt ihrer Arbeit nachgehen. Weil der Film bildsprachlich eher an ein Science-Fiction-Drama erinnert als an eine Doku über ein Schlechte-Laune-Thema, entwickelt er trotz der abstrakten Materie einen erheblichen Sog. Der Moloch der philippinischen Metropole wirkt wie eine perfekte Noir-Kulisse für dieses dystopische und doch sehr gegenwärtige Paralleluniversum, das die Regisseure Hans Block und Moritz Riesewieck präsentieren.
Geoblocking in autoritären Staaten
In der Arbeit der Moderatoren offenbaren sich scheinbar endlose Abgründe. Zu ihrer täglichen Kost gehören kinderpornographisches Material ebenso wie Terrorpropaganda. Doch es sind eben nicht nur Enthauptungen und Vergewaltigungen, die von ihnen herausgefiltert werden. Bei ihrer Arbeit werden auch Fragen der Kunstfreiheit und der politischen Zensur berührt. Viele Internetfirmen praktizieren – vor allem in autoritär regierten Ländern – das so genannte „Geoblocking“: die regionale Sperrung von Inhalten durch den Anbieter, um nicht verboten zu werden oder etwa aus lizenzrechtlichen Gründen. Die Türkei, erfährt man, ist das Land mit den meisten Sperrungen weltweit.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Pre-Crime" – Doku über präventive Verbrechens-Bekämpfung mit Big Data und ihre Nebenfolgen von Monika Hielscher+ Matthias Heede
und hier eine Besprechung des Films "The Circle" – Adaption des Bestseller-Romans von Dave Eggers über totale soziale Kontrolle bei einem Internet-Monopolisten durch James Ponsoldt
und hier einen Bericht über den Film "Citizenfour" – beeindruckende, Oscar-prämierte Doku von Laura Poitras über den Abhörskandal-Enthüller Edward Snowden
und hier einen Beitrag über die "Transmediale 2015 – Capture All" – facettenreiches Digitalkunst-Festival im Haus der Kulturen der Welt, Berlin.
Überforderung der Demokratien
Das Thema ist unüberschaubar und oft in sich widersprüchlich: auch ein Mitschnitt von Gräueltaten kann ja durchaus der Aufklärung dienen. So behauptet der Film gar nicht erst, dass es einfache Lösungen für die mannigfaltigen Probleme gebe. Etliche Aspekte werden nur kurz angeschnitten; allein über die psychischen Folgen für die Mitarbeiter ließe sich ein eigener Film drehen. Und obwohl mancher Hintergrund-Aspekt offen bleibt – etwa die Frage, weshalb diese Zensoren-Arbeit überwiegend auf den Philippinen angesiedelt ist – wird aus dem Wirrwarr doch ein erstaunlich kohärentes Ganzes.
Block und Riesewieck machen deutlich, wie komplex und politisch weitreichend die Entscheidungen sind, die von den Content-Moderatoren getroffen werden, und wie wenig sie darauf vorbereitet sind. Das Hauptproblem ist jedoch ein anderes: Demokratisch legitimierte Regierungen treten aus Überforderung und Inkompetenz freiwillig politische Entscheidungen an soziale Netzwerke ab. Diese besitzen mittlerweile zwar eine unglaubliche Medienmacht, aber keine Medienkompetenz – und verstehen sich auch gar nicht als Medienunternehmen mit entsprechender Verantwortung.
Digitale Müllsammler
Das ist hierzulande, etwa in den Löschzentren der Bertelsmann-Firma Arvato, nicht wesentlich anders. Auch hier erscheint intransparent, wie der Kriterienkatalog erstellt wurde; viele Mitarbeiter fühlen sich überfordert und alleine gelassen. Die meisten Niederlassungen dieser Branche sind jedoch auf den Philippinen angesiedelt; der Film stellt sowohl die dortige Situation als auch ihre globalen Auswirkungen anschaulich dar. Im Interview erzählt eine Frau, dass ihre Mutter sie einst zu Fleiß in der Schule antrieb: mit der Drohung, sie werde sonst als Müllsammlerin enden. Trotz guter Bildung ist sie jetzt genau da gelandet.