
Eigentlich soll Corine (Cécile de France) in der Mongolei nur ergänzende Töne und Geräusche für eine Reportage einfangen. Während der Aufnahme einer schamanistischen Zeremonie fängt sie plötzlich an, zu zittern, fällt in Trance und beginnt, wie ein Wolf zu heulen. Ohnehin durch den Verlust ihres Ehemanns sehr mitgenommen, bringt sie dieses Erlebnis noch mehr durcheinander.
Info
Eine größere Welt
Regie: Fabienne Berthaud,
100 Min., Frankreich/Belgien 2019;
mit: Cécile de France, Narantsetseg Dash, Tserendarizav Dashnyam
Abhilfe für angeknackstes Selbstwertgefühl
Diese Begebenheit hat tatsächlich 2001 stattgefunden. Corine Sombrun hat über ihre Erlebnisse in der Mongolei ein Buch geschrieben, das unter dem Titel „Mein Leben bei den Schamanen“ 2005 auch auf Deutsch erschienen ist. Es diente Regisseurin Fabienne Berthaud als Vorlage für ihren Spielfilm „Eine größere Welt“. Wie schon bei ihrem letzter Spielfilm „Sky – Der Himmel in mir“ (2015), wo eine Frau bei einem Roadtrip allein durch den Westen der USA ihr Selbstwertgefühl stärkt, interessiert Berthaud abermals die Figur einer emotional angeschlagenen Frau, die in der Natur und mithilfe archaischer Rituale ein neues Verhältnis zu sich selbst findet.
Offizieller Filmtrailer
Zur Recherche bei den Tsaatan
Das gelingt ihr wohltuend sachlich, ohne gefühliges Selbstfindungs-Geschwurbel. Ein Grund dafür dürfte sein, dass sich die Regisseurin nicht nur von der Autorin Corine Sombrun beraten ließ, sondern gemeinsam mit ihr und der Übersetzerin Naraa, die im Film sich selbst spielt, im realen mongolischen Nomadendorf der Tsaatan an der Grenze zu Sibirien eine Weile recherchierte. Ihr Verständnis für die Existenzform dieses Volks von Rentierhirten, die weitab von der modernen Zivilisation leben, ist jederzeit spürbar; ihr Film nimmt sowohl das Thema als auch seine Protagonisten sehr ernst.
Gedreht wurde an Originalschauplätzen in der Mongolei. Das verleiht der Handlung teilweise semidokumentarischen Charakter, wodurch sie weitgehend ohne Ethnokitsch auskommt: Die Dorfbewohner spielen sich selbst. Nur die Rolle der Schamanin Oyun (Tserendarizav Dashnyam) übernahm eine Schauspielerin.
Faszinierende Trance-Rituale
Trotz ihres Bemühens um Wahrhaftigkeit nimmt sich Berthaud einige dramaturgische Freiheiten. So wird die Filmfigur der Corine dazu motiviert, ihre Trance-Zustände steuern zu lernen, weil sie hofft, damit transzendentalen Kontakt zu ihrem verstorbenen Ehemann aufnehmen zu können. Das gerät in manchen Szenen etwas zu melodramatisch, obwohl man der Witwe ihren Verlustschmerz durchaus abnimmt.
Für die heilende Kraft der Natur und deren beruhigende Wirkung findet Regisseurin Berthaud jedoch wunderschön stimmige Bilder; etwa, wenn Corine gelöst und mit geschlossenen Augen auf einer Wiese sitzt und einfach nur lauscht. Gemeinsam mit ihr macht der Zuschauer als teilnehmender Beobachter diese innere und äußere Reise gleichsam mit; dabei kann man sich der Faszination kaum entziehen, die von schamanischen Ritualen und den Trance-Phasen ausgeht, die der Film in verschwommen bruchstückhafte Schwarzweißbilder fasst.
Erst einmal Holzhacken + Rentier-Melken
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "La belle saison – Eine Sommerliebe" – lesbisches Liebesdrama in den 1970er Jahren von Catherine Corsini mit Cécile de France
und hier einen Bericht über den Film "Der letzte Wolf (3D)" – Bestseller-Verfilmung aus der chinesischen Mongolei als Systemkritik im Wolfspelz von Jean-Jacques Annaud
und hier einen Beitrag über den Films "My Reincarnation – Wiederkehr" – Doku über den Sohn eines tibetischen Lamaismus-Lehrmeisters von Jennifer Fox.
Da sieht man Cécile de France ganz gerne beim Wassertragen oder Durchstreifen der majestätisch unberührten Landschaft zu; irgendwann erscheint auch der unvermeidliche Wolf. Als Corine schließlich für ihre Initiation bereit ist, erscheint das dazugehörige Beiwerk aus Trommel und Fransenmaske nicht mehr seltsam.
Nächstes Jahr in der Mongolei
Dass Autorin Corine Sombrun ihre Trance-Fähigkeiten inzwischen für die Forschung in den Neurowissenschaften einsetzt, bleibt eine Randnotiz; ohnehin gäbe das visuell nicht viel her. Gut, dass der Film sich auf den Schauplatz Mongolei konzentriert: Seine Mischung aus anrührendem Kinodrama und ethnografisch recht korrekter Schilderung ohne gefühliges Pathos ist sehr gelungen. Damit weckt er Neugier auf Unbekanntes; wäre nicht Corona-Blockade, würde man glatt gern dorthin reisen.