Eine lebende Legende: Jon Stewart ist in den USA mindestens so berühmt wie hierzulande Jan Böhmermann – eher mehr. Von 1999 bis 2015 war er anchorman von „The Daily Show“ im Kabelkanal „Comedy Central“: Diese tägliche Nachrichten-Satire, die als Vorbild für die „heute-show“ im ZDF diente, war zeitweise derart populär, dass viele US-Zuschauer sie anstelle der üblichen Nachrichtensendungen einschalteten – sie fühlten sich von Stewart besser und ausgewogener informiert.
Info
Irresistible – Unwiderstehlich
Regie: Jon Stewart,
101 Min., USA 2020;
mit: Steve Carell, Chris Cooper, Mackenzie Davis
Trendwende im swing state
Ohne deren Stimmen können aber die Demokraten keine Präsidentschaftswahlen gewinnen, ist Wahlkampfmanager Gary Zimmer (Steve Carell) überzeugt. Daher wird er hellhörig, als ihm ein Videoclip zugespielt wird: Darin hält der Armeeveteran Jack Hastings (Chris Cooper) bei einer Bürgerversammlung im Nest Deerlaken, Wisconsin, eine flammende Rede zugunsten von illegalen Einwanderern. Wisconsin ist einer der swing states, die mal für demokratische, mal für republikanische Kandidaten stimmen und damit auf US-Ebene für wechselnde Mehrheiten sorgen.
Offizieller Filmtrailer
Schlachtfeld heiß laufender Maschinen
Hastings sei sein Mann, entscheidet Zimmer: Er will ihn als demokratischen Kandidaten bei den nächsten Bürgermeisterwahlen in Deerlaken aufbauen – und dadurch der ganzen Nation beweisen, dass die Demokraten auch Hinterwäldlern im Mittleren Westen eine politische Heimat bieten. Zimmer reist also nach Wisconsin und überredet Hastings mithilfe seiner Tochter Diana (Mackenzie Davis), gegen den amtierenden Bürgermeister Braun anzutreten. Der wird von den Republikanern unterstützt; sie schicken Zimmers ewige Rivalin Faith Brewster (Rose Byrne) nach Deerlaken.
Im Nu wird das beschauliche Örtchen, das unter der Schließung eines Armeestützpunkts leidet, zum Schlachtfeld für heiß laufende Wahlkampf-Maschinen aus Washington. Enorme Summen fließen in die Kampagnen beider Parteien; die Bürgermeisterwahl wird zur Entscheidung von nationaler Tragweite aufgebauscht. Selbstredend sorgt der culture clash zwischen smarten Politprofis aus der Hauptstadt und gemütlichen Provinzlern für allerlei Situationskomik – bis letztere die ach so gerissenen PR-Strategen als Düpierte vorführen.
Kandidat als schießwütiger Rambo
Doch auf diese Volte kommt es gar nicht an; für hiesige Zuschauer ist interessanter, wie Stewart genüsslich den hochtourigen Wahlkampfbetrieb als inhaltsleer seziert. Da werden die Stimmbürger mittels Mikrotargeting in immer kleinere Zielgruppen zerlegt – bis die Kandidaten jedem einzelnen Wohnblock spezifische Versprechen machen, die man dort vermeintlich hören will. Beziehungsweise machen lassen: Kampagnenhelfer verteilen Flyer oder schalten TV-Reklame, von deren Inhalt die Kandidaten gar nichts wissen.
Hintergrund
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Kampagnen kreisen um sich selbst
Denn es geht nicht um einen banalen Bürgermeisterposten, sondern um sehr viel Geld: Ohne Spenden kein Wahlkampf, und sobald der viel versprechend verläuft, lassen sich damit noch mehr Spenden eintreiben. In einem grotesken Intermezzo fliegen Zimmer und Hastings nach New York, um bei reichen Mäzenen zu antichambrieren. Der Kandidat bringt keinen geraden Satz heraus – halb so wild, die Schecks werden trotzdem ausgestellt. Letztlich kreisen die Kampagnen um sich selbst; politische Überzeugungen oder Botschaften stören da nur.
Von der US-Presse wurde der Film eher ungnädig aufgenommen; Kritiker warfen ihm vor, er sei zu zahm und altmodisch. Was wenig über seine Qualitäten aussagt, sondern mehr darüber, wie zugespitzt die parteipolitische Polarisierung in den USA mittlerweile ist: Satire, die ihren Gegenstand nicht rhetorisch hinrichtet, gilt als halbherzig und überholt. Zwar ließe sich einwenden, dass der gewiefte Comedian Stewart arg viele Gags abfeuert, die sich Nichtamerikanern eher begrenzt erschließen. Doch als schaurig schönes Sittenbild eines Politikbetriebs, der nur noch mit Projektionsfiguren hantiert, taugt „Irresistible“ allemal.