
Politik ist die Fortsetzung von Krieg mit anderen Mitteln: Nach dieser Devise boxt die Top-Lobbyistin Elizabeth Sloane (Jessica Chastain) die Interessen ihrer Auftraggeber durch. Obwohl sie blendend verdient, geht es ihr nicht um Geld; obwohl sie an vielen Strippen zieht, geht es ihr nicht um Macht. Sie will um jeden Preis gewinnen – mit gleichsam militärisch organisierten Feldzügen auf dem politischen Parkett, um am Ende Rede- und Abstimmungs-Schlachten für ihre Sache zu entscheiden.
Info
Die Erfindung der Wahrheit – Miss Sloane
Regie: John Madden,
132 Min., USA 2016;
mit: Jessica Chastain, Mark Strong, Gugu Mbatha-Raw
Debüt-Drehbuch eines Autodidakten
Was nun folgt, ist so aufregend, dass der pseudo-paradoxe Titel „Die Erfindung der Wahrheit“ dafür viel zu betulich klingt. Offenbar ist Drehbuch-Autor Jonathan Perera eine ähnliche Ausnahme-Erscheinung wie seine Titelheldin: Er gab seine britische Anwaltskanzlei auf, brachte sich in Südkorea selbst das Skript-Schreiben bei und verfasste als 30-Jähriger sein Debüt im Alleingang – es wurde in Hollywood sofort angekauft. Die Regie übernahm John Madden, der 14 Spielfilme quer durch alle genres gedreht hat; darunter 1998 den mit sieben Oscars prämierten Welterfolg „Shakespeare in Love“.
Offizieller Filmtrailer
Überraschen + sich nicht überraschen lassen
Gemeinsam gelingt Perera und Madden ein kleiner Geniestreich: Sie führen das Alltagsgeschäft in Washington D.C. als endlosen Reigen aus briefings, meetings, Hintergrund-Gesprächen und Ausschuss-Sitzungen vor – und verdichten es dabei zum atemberaubenden Feuerwerk aus Winkelzügen, Geistesblitzen und Taschenspielertricks, ohne den mühseligen politischen Betrieb zu vereinfachen oder zu -fälschen.
Seit den besten Polit-Thrillern von New Hollywood in den 1970er Jahren war im Kino kaum mehr so realistisch zu sehen, wie Politik wirklich funktioniert: Begriffe besetzen, Allianzen schmieden, Kampagnen organisieren, Klischees ausschlachten – und dann mühsam alle Entscheidungsträger beackern, einen nach dem anderen. Die springen am ehesten an, wenn etwas für sie herausspringt. Stets gilt es, allen einen Schritt voraus zu sein: „Lobbyismus bedeutet, seine Gegner zu überraschen – und sich nicht überraschen zu lassen.“
Soziale Isolation als Energie-Ressource
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Moment der Wahrheit - Truth" - Polit- und Medien-Thriller um gefeuerten TV-Moderator von James Vanderbilt mit Cate Blanchett + Robert Redford
und hier einen Bericht über den Film "Die Wahlkämpferin – Our Brand is Crisis" – schillernde Polit-Satire über Wahl-Beratung in Bolivien von David Gordon Green mit Sandra Bullock
und hier eine Besprechung des Films "Spotlight" - brillanter Medien-Thriller von Tom McCarthy, mit dem Oscar für den besten Film 2016 prämiert
und hier einen Beitrag über den Film "A Most Violent Year" - faszinierender Thriller im Heizöl-Großhandel (!) von JC Chandor mit Jessica Chastain.
Ihn bucht sie regelmäßig für Schäferstündchen: Die power-Frau hat auch ihr Privatleben ganz aufs workaholic-Dasein abgestimmt. Business-Kleidung liefert der Bringdienst, Pillen wirken gegen Müdigkeit und schwache Momente. Dabei räumt Sloane freimütig ein, keine engen sozialen Beziehungen zu kennen – auch das ist präzise beobachtet: Hochleistungs-champions nutzen oft ihre emotionalen Defizite als zusätzliche Energie-Ressource.
Besser als 1000 „Tagesthemen“
Was Jessica Chastain mit solch abgebrühter Konsequenz durchzieht, dass alle anderen Akteure zu erstaunten Statisten beim egotripping dieses eiskalten Engels werden. Das spielt sich mehr als zwei Stunden lang fast nur in Bürogebäuden und Besprechungszimmern ab – und wird doch keine Sekunde langweilig. Auch wenn die alleinige Fokussierung auf die Hauptfigur etwas überspitzt erscheint: Selten wird die Mechanik heutiger Machtausübung auf der Leinwand so anschaulich seziert. Das kann dieser Film besser als 1000 Ausgaben von „Tagesthemen“ oder „heute journal“.