Cortex, genauer: Cortex cerebri, ist die medizinische Bezeichnung für die Großhirnrinde, die dafür zuständig ist, aus Sinneseindrücken ein kohärentes, in sich stimmiges Bild der Außenwelt zu formen – unerlässlich für Orientierung und Überleben. Dieser Fachbegriff erweist sich als treffender Titel für das gelungene Regiedebüt vom Moritz Bleibtreu, mit dem er sich auf das hierzulande selten bespielte Terrain komplexer Psychothriller begibt.
Info
Cortex
Regie: Moritz Bleibtreu,
82 Min. Deutschland 2020;
mit: Moritz Bleibtreu, Jannis Niewöhner, Nadja Uhl
Rätselhafte Traumwelten
Mit seiner ersten Regiearbeit geht Bleibtreu durchaus ein Wagnis ein – schließlich lässt das Publikum düstere deutsche Filme oft links liegen. Massenkompatibel ist „Cortex“, für den Bleibtreu auch das Drehbuch schrieb, mit seiner nonlinearen Erzählstruktur jedenfalls nicht. Ähnlich wie Christopher Nolan in „Inception“ (2010) beschäftigt sich Bleibtreu mit den rätselhaften Mechanismen, die in der Sphäre der Träume wirken.
Offizieller Filmtrailer
Ein Mann, zwei Persönlichkeiten?
Die von ihm verkörperte Hauptfigur, der Wachmann Hagen, findet im Schlaf keine Ruhe. Er wird immer wieder von verwirrenden Träumen heimgesucht; auch tagesüber dämmert er ständig weg. Diesem Geplagten gibt Bleibtreu ein fast zombiehaftes Auftreten. Kein Wunder, dass Hagens Beziehung zu seiner Ehefrau Karoline (Nadja Uhl) unter seiner Verfassung leidet. Für zusätzliche Verunsicherung sorgt der Kleinkriminelle Niko (Jannis Niewöhner), der immer wieder in Hagens Träumen erscheint.
Plötzlich begegnet Hagen der junge Gauner in seinem Alltag. Oder bildet Hagen sich das nur ein? Dagegen ergeht es Niko ebenso: Er träumt sich in Hagens Leben hinein. Geschickt baut das Drehbuch die Verbindung zwischen den Männern auf, was Fragen auslöst: Existieren beide wirklich, oder handelt es sich um zwei Seiten einer Persönlichkeit? Wo endet die Vorstellung, wo beginnt die Realität? Und hat Niko tatsächlich ein Verhältnis mit Karoline? Zwei wechselseitig voneinander träumende Personen, die allmählich eine reale Verbindung eingehen, bilden auch die Grundkonstellation in „Körper und Seele“ von Ildikó Enyedi, dem zauberhaften Berlinale-Siegerfilm 2017.
Unwirklich und beklemmend
Die Art und Weise, wie die Leben von Hagen und Niko ineinander fließen, erinnert zudem an David Lynchs psychoanalytisch aufgeladenen Mystery-Thriller „Lost Highway“ (1997), ein großartiges Vexierspiel. Ähnlichkeiten finden sich auch beim weniger bekannten Psychothriller „Fear X – Im Angesicht der Angst“ (2003) des dänischen Regisseurs Nicolas Winding Refn: Darin hat ein Security-Mitarbeiter ebenfalls Schwierigkeiten, zwischen Wirklichkeit und Einbildung zu unterscheiden.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Körper und Seele" - traumschöne Liebesgeschichte von Ildikó Enyedi, Berlinale Siegerfilm 2017
und hier eine Besprechung des Films "Inception" – komplexer Psychothriller über Traumwelten von Christopher Nolan mit Leonardo DiCaprio.
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Überraschend skurril
Erklärungsansätze gibt es jedoch sehr wohl – etwa in einer Szene mit dem österreichischen Schauspieler Nicholas Ofczarek als ein in der Traumforschung bewanderter Apotheker. Der Burgtheater-Mime hat einen Auftritt, dessen Skurrilität im deutschen Kino ungewöhnlich ist – ein Beispiel für Bleibtreus Fähigkeit, zu überraschen. Dass er es manchmal übertreibt und das Geschehen doch arg symbolisch auflädt, verzeiht man bei diesem Regiedebüt deshalb gerne.