Ammoniten sind eine vor mehr als 60 Millionen Jahren ausgestorbene Tiergruppe, deren Fossilien seit Jahrhunderten als Schmuck getragen werden. Dafür gilt es zunächst, sie zu finden, denn ihre schneckenhausartig gewundene Schönheit steckt fest in grauem Gestein. Sie muss entdeckt und mühevoll herausgearbeitet werden: Damit bestreitet die Forscherin Mary Anning (Kate Winslet) Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Lebensunterhalt. Sie sucht die Strände in der Nähe ihrer Heimatstadt Lyme Regis an Englands Südküste nach Fossilien ab. Kleinere Funde verkauft sie im Kuriositätenladen, den sie gemeinsam mit ihrer Mutter betreibt; größere schickt sie zum Museum in London.
Info
Ammonite
Regie: Francis Lee,
118 Min., Großbritannien 2021;
mit: Kate Winslet, Saoirse Ronan, James McArdle
Weitere Informationen zum Film
Ammoniten als Metapher
Doch in einer Welt, die nur wenig Raum für Träume bietet, finden die beiden Frauen fast zwangsläufig zueinander. Hinter den Narben der Vergangenheit, der Tristesse des Alltags und unter dem strengen Blick der örtlichen Gesellschaft entdecken sie aneinander wahre Schönheit. So dienen die Ammoniten nicht nur als Titel und Handlungsmotor, sondern auch als zentrale Metapher dieses unprätentiösen Kostümdramas von Francis Lee.
Offizieller Filmtrailer
Liebesgeschichte unter grauem Himmel
In seinem Langfilm-Debüt „God’s Own Country“ (2017) hat der schottische Regisseur eine schwule Liebesgeschichte vor regionaler Landschaftskulisse inszeniert. Nun erzählt er mit „Ammonite“ ein lesbisches Pendant und wandert dafür von Yorkshire nach Dorset. Inspiriert ist sein Film von der Biographie der britischen Fossiliensammlerin Mary Anning, die als aufstrebendes Arbeiterkind zu Lebzeiten kaum beachtet wurde, heute aber als Pionierin der Paläontologie gilt. Für Lee ist sie vor allem eine unabhängige Frau in einer patriarchalen Gesellschaft und als solche eine würdige Heldin.
Mit viel Liebe zum Detail drehte er den Film in der grimmig-schönen Küstenlandschaft Englands: wolkenverhangener Himmel über schroffen Stränden und engen Gassen, der Geruch von Salz und Seetang liegt dabei förmlich in der Luft. Die Kamera bleibt nahe an den Protagonistinnen, macht die Schwere der viktorianischen Mode spürbar und gibt dabei den beiden Schauspielerinnen ausgiebig Gelegenheit, ihr Können auszuspielen.
Vom Begehren überrumpelt
Kate Winslet, seit ihrem Debüt 1994 in „Heavenly Creatures“ immer wieder für unmögliche Liebschaften gecastet, wandelt sich von einer desillusionierten Pragmatikerin zu einer Liebenden – überrumpelt vom eigenen Begehren. Saoirse Ronan, 20 Jahre jünger, verdreht ihr den Kopf, ohne recht zu wissen, wie – oder rückt sie ihr den Kopf erst zurecht? Sie ist es auch, die in jugendlichem Sturm und Drang versucht, die gemeinsame Liebe über ihr vom Schicksal verordnetes Haltbarkeitsdatum hinaus zu retten.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "God's Own Country" - herb-romantisches Homosexuellen-Drama von Francis Lee
und hier eine Besprechung des Films "Little Women" - unterhaltsames US-Frauen-Historiendrama von Greta Gerwig mit Saoirse Ronan
und hier einen Bericht über den Film "Porträt einer jungen Frau in Flammen" - wunderbar nuancierter Historienfilm über lesbische Affäre von Céline Sciamma mit Adèle Haenel
und hier ein Beitrag über den Film "Die Verführten" - gelungenes Historiendrama über sieben Frauen im US-Bürgerkrieg von Sofia Coppola mit Nicole Kidman.
Vorhersehbar und angenehm entrückt
Winslet und Ronan machen dabei jede Nuance nachfühlbar, bis sich ihr Verlangen in einer genretypischen Liebesszene erfüllt. Denn „Ammonite“ ist weniger ein Biopic als vielmehr ein schön gefilmtes und dabei ziemlich konventionelles lesbisches Liebesdrama. Vorhersehbar und historisch angenehm entrückt, schaut es sich weg wie die Verfilmung eines Jane-Austen-Romans: Ähnlich dem erfolgreichen „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ (2019) von Céline Sciamma überschreitet „Ammonite“ mühelos die Schwelle vom Autorenfilm zum Mainstream-Kino.