
„Die ganze Welt sieht zu!“, ruft eine Gruppe aufgebrachter Demonstranten in der Eröffnungsszene aus dem Off. Es ist das Jahr 1968 am Schauplatz Chicago. Die „Yippies“, der linksradikale Flügel der US-Studentenbewegung, protestieren gegen den Vietnam-Krieg, gegen die Regierung und gegen das System insgesamt – dazu zählt auch das damalige Verbot der Abtreibung.
Info
Call Jane
Regie: Phyllis Nagy,
121 Min., USA 2022;
mit: Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Kate Mara, Chris Messina
Weitere Informationen zum Film
Männerrunde entscheidet
Elisabeth Banks spielt die Hausfrau Joy, die sich nach der Diagnose eines Herzleidens in einer Zwangslage befindet: Sie ist mit ihrem zweiten Kind schwanger – und ihr Risiko ist hoch, dass sie bei der Geburt ihr Leben riskiert. Ihre Überlebenschancen betragen 50 Prozent. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Will (Chris Messina) entscheidet sie sich für eine Abtreibung. Aber 1968 muss der Krankenhaus-Vorstand beurteilen, ob in Joys Fall ein „therapeutischer Abbruch“ infrage kommt. Die Männerrunde entscheidet zu Gunsten des Kindes – Joy wird der Eingriff verwehrt.
Offizieller Filmtrailer
Die Janes für besorgte Schwangere
Will findet sich mit der Entscheidung ab. Joy überlegt kurz, sich eine Treppe hinunterzustürzen – ein Tipp, den sie von einer Bekannten bekommen hat, die vor dem gleichen Problem stand. Nach einem weiteren missglückten Versuch der Selbsthilfe greift sie in ihrer Verzweiflung schließlich zum Telefonhörer: Sie ruft „Jane“ an, einen Anschluss für schwangere Frauen, die „besorgt“ sind, wie es verklausuliert heißt. Den Zettel mit der Nummer hat sie zufällig auf der Straße entdeckt.
So gerät Joy an ein Kollektiv von Frauen, die unter diesem Decknamen in den 1960er Jahren in Chicago ein Netzwerk aufbauen, um Schwangere bei illegalen Abtreibungen zu unterstützen. Hier ist das Drehbuch nah an der Realität: Die „Janes“ hat es tatsächlich gegeben. Eine ihrer damaligen Mitstreiterinnen, Judith Arcana, war auch als Beraterin an der Entstehung des Films beteiligt.
Optimismus mit Schwächen
Richtig in Schwung kommt die Geschichte, als Joy von Virginia (Sigourney Weaver), der Gründerin der verdeckt arbeitenden Gruppe, in die organisatorischen Einzelheiten eingeweiht wird. Ein junger angehender Arzt namens Dean nimmt die Abtreibungen für eine Gebühr von 600 Dollar vor. Doch Joy glaubt, dass es auch günstiger geht – und bietet sich an, sich die nötigen Kenntnisse selbst anzueignen. Schließlich suchten überwiegend Frauen ohne finanzielle Mittel medizinische Hilfe bei „Jane“.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Niemals Selten Manchmal Immer" – einfühlsames US-Abtreibungs-Drama von Eliza Hittmann
und hier eine Besprechung des Films "Das Ereignis" – kühl drastisches Abtreibungs-Drama aus Frankreich von Audrey Diwan
und hier einen Beitrag über den Film "24 Wochen" – ergreifendes Abtreibungsdrama von Anne Zohra Berrached
und hier einen Bericht über den Film "Carol" - ergreifendes lesbisches Liebesdrama in den 1950er Jahren von Todd Haynes nach einem Drehbuch von Phyllis Nagy.
Ehrenwerte Ambitionen
Feingefühl zeigt Regisseurin Phyllis Nagy, wenn es schmerzlich wird. Ein Schwenk über gynäkologische Instrumente und die verängstigten Gesichter der Frauen kurz vor dem Eingriff genügt, um die einschneidende Erfahrung des Abtreibungsvorgangs zum Ausdruck zu bringen. Ähnlich wie in ihrem Drehbuch zum lesbischen Liebesdrama „Carol“ (2015) von Todd Haynes versteht es Nagy auch als Regisseurin, die angespannte Atmosphäre in jener Epoche einzufangen. Wirklich bewegende Szenen gibt es allerdings wenige – wie jene im Sitzungszimmer der Klinik, als Joy miterleben muss, wie in ihrem Beisein über ihr Schicksal entschieden wird, als wäre sie unsichtbar.
Mit „Call Jane“ will Regisseurin Nagy offenbar mit einem kalkuliert überzeichneten Feelgood-Beitrag auf die US-Abtreibungsdebatte einwirken: Es geht um weibliche Selbstbestimmung, Zivilcourage und eine bessere Zukunft. Auch wenn diese Absicht ehrbar und der Film durchaus ansehnlich ist – eine komplexere Entwicklung der Charaktere wünschenswert gewesen.