Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow (auch: Oleh Sentsov) wurde vor allem als politischer Gefangener bekannt. Nachdem er 2014 gegen die russische Annexion der Krim protestiert hatte, wurde er inhaftiert und in Moskau zu 20 Jahren Straflager verurteilt, von denen er vier Jahre absitzen musste. 2019 wurde er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs mit der Ukraine freigelassen.
Info
Rhino
Regie: Oleg Senzow,
101 Min., Ukraine/ Polen/ Deutschland 2022;
mit: Serhii Filimonov, Yevhen Chernykov, Yevhen Grygoriev, Alina Zevakova
Weitere Informationen zum Film
Sich buchstäblich durchboxen
Wie bereits in seinem ersten Spielfilm „Gamer“ (2012) über einen sich ins Virtuelle flüchtende Videospieler folgt Senzow auch in „Rhino“ dem Werdegang eines jungen Mannes: Er muss sich im harten Leben der postsowjetischen 1990er Jahre buchstäblich durchboxen. In einer brillant komponierten Eingangssequenz wird Rhino aber zunächst als kleiner, schmächtiger Junge gezeigt, der mit seinen Eltern und Geschwistern in einem Häuschen auf dem Land aufwächst.
Offizieller Filmtrailer OmU
Bruder in Afghanistan + Vater im Knast
Andere Kinder hänseln und verprügeln den Jungen. Zu Hause ist es nicht besser: Sein älterer Bruder wird Ende der 1980er als Sowjetsoldat nach Afghanistan geschickt. Nun ist die Familie dem saufenden und prügelnden Vater schutzlos ausgeliefert; erst als dieser ins Gefängnis wandert, beruhigt sich die Atmosphäre. Zwar kehrt der Bruder äußerlich unversehrt zurück, doch dann verschwindet eine Schwester – und steht eines Tages mit einem Säugling im Arm vor der Tür.
Das alles handelt Senzow in wenigen Minuten ab, während im Fernsehen Weltpolitik flackert: Die Berliner Mauer fällt, das Sowjetreich zerbröckelt. Schließlich verwandelt sich mitten in einer Kamera-Bewegung der kleine Prügelknabe in den bulligen „Rhino“; stolz schlendert er die Dorfstraße mit seiner schönen Freundin Marina (Alina Zevakova) entlang, der lokalen Disko-Königin.
Frau + Tochter sterben bei Pseudo-Unfall
Eine Beule auf der Stirn trägt Rhino seinen Spitznamen ein – sie ist ein Andenken an einen der vielen Kämpfe, die der junge Mann inzwischen ausgefochten hat. Gemeinsam mit seinen Kumpels Plus (Yevhen Grygoriev) und Red (Oleksandr Rudynskyi) beherrscht er das umliegende Terrain in der mittlerweile ukrainischen Provinzstadt. Doch der ehrgeizige Rhino will mehr erreichen. Bremsen kann ihn nur seine Jugendliebe Marina – aber sie und die gemeinsame Tochter kommen bei einem von Rivalen inszenierten Unfall ums Leben.
Danach gibt es für Rhino kein Halten mehr. Die Gewaltspirale dreht sich unaufhörlich, bis er fliehen muss – um in einem beschaulichen westdeutschen Kaff unterzutauchen. Dort holt ihn seine ukrainische Vergangenheit wieder ein. Die beichtet er einem Unbekannten in einem Auto; diese Passagen, in denen er sein auf rohe Gewalt gründendes Dasein reflektiert, sind die einzigen Ruhemomente, die Senzow seiner getriebenen Hauptfigur gönnt.
Eine Form sozialer Gewalt löst die andere ab
Sein Leben erzählt der Regisseur mit Rückblenden, die in fahle Farben und diffuses Licht getaucht sind; als Tribut an den Drehort Krywyj Rih, ein Zentrum der Stahlindustrie. Dort wird erst Russisch, später Ukrainisch gesprochen; ansonsten ändert sich nicht viel. Allenfalls tauchen auf den Märkten dubiose Lebensmittel auf, sowie chinesische Billig-Klamotten und -Musikanlagen, aus denen russischer Pop plärrt. Damit kontrastiert die schwäbische Idylle, in der sich Rhino versteckt. So entwirft Senzow ein subtiles, detailgetreues und auch in seiner Brutalität anschauliches Bild postsowjetischer Gesellschaften in den späten 1990er Jahren, verpackt als Kleingangster-Vita.
Hintergrund
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Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs
Gewalt zeigt Regisseur Senzow als omnipräsenten Verhaltensmodus, dessen sich alle bedienen und der als gegeben hingenommen wird. Von Männern – Frauen spielen kaum eine Rolle. Stoisch und wortlos prügelt Rhino auf Widersacher ein, lässt ihre Finger abschneiden und ermordet sie. Diesen blanken Horror verstärken lange, klug gewählte Kameraeinstellungen mit wenigen Schnitte.
Der russische Überfall auf die Ukraine verleiht dem Film beklemmende Aktualität: Er illustriert die lange Vorgeschichte der Grausamkeit der Kombattanten. Sie prägt historisch bedingt beide Seiten, ähnlich in den meisten anderen Ex-Sowjetrepubliken. Dabei kann und will „Rhino“ als lakonische Analyse keine Alternative aufzeigen. Bedenklich stimmt jedoch die Herkunft des Hauptdarstellers und der Umstand, dass Regisseur Senzow sich nach Ausbruch des Krieges freiwillig den ukrainischen Streitkräften angeschlossen hat. Dieser Film wird hoffentlich nicht sein letzter sein.