John Malkovich

Seneca

Seneca (John Malkovich) wird von Neros Mutter Agrippina (Mary-Louise Parker) kaum verhohlen mit dem Tod bedroht. Foto: © Filmgalerie 451
(Kinostart: 23.3.) Leben als Kunst, das Sterben zu lernen: Der berühmte Freitod des antiken Philosophen war eine grausige Quälerei. Seinen Selbstwiderspruch seziert Regisseur Robert Schwentke als pointierte Groteske – mit dem sagenhaft redseligen John Malkovich als einem Virtuosen folgenloser Rhetorik.

Allmählich scheint die Antike durch Globalisierung und Digitalisierung endgültig unterzugehen: Unsere auf Turbo-Modernisierung getrimmte Epoche beschäftigt sich kaum noch mit den historischen Fundamenten der europäischen Zivilisation, die eineinhalb Jahrtausende lang als maßgeblich galten. Das war vor 50 Jahren deutlich anders – nicht nur in der akademischen Philosophie und Geschichtsschreibung.

 

Info

 

Seneca

 

Regie: Robert Schwentke,

112 Min., Deutschland/ Marokko 2023;

mit: John Malkovich, Samuel Finzi, Geraldine Chaplin, Lilith Stangenberg

 

Weitere Informationen zum Film

 

Maximen und Sentenzen von Sokrates, Cicero oder Marc Aurel wurden in bildungsbürgerlichen Kreisen gern zitiert; „Seneca für Manager“ war geradezu eine Chiffre für die Indienstnahme zeitlos gültiger Lebensweisheiten zu gegenwärtigen und praktischen Zwecken. Auch Autorenfilmer bedienten sich freimütig bei antiken Stoffen und Mythen: Federico Fellini verfilmte 1969 den römischen „Satyricon“-Roman, Pier Paolo Pasolini interpretierte altgriechische Tragödien in „Edipo Re“ (1967) und „Medea“ (1969) mit Maria Callas.

 

Vielschichtig schillernde Persönlichkeit

 

Mittlerweile müssen antike Stoffe als exotische Schauplätze für Fantasy- und Action-Spektakel wie „Gladiator“ (2000) herhalten. Anders behandelt Regisseur Robert Schwentke in „Seneca“ seinen Titelhelden: Er nimmt den römischen Philosophen und Schriftsteller als vielschichtig schillernde Persönlichkeit völlig ernst. Schwentke schlägt quasi die umgekehrte Richtung ein: Nach zwei deutschen Low-Cost-Filmen ging er nach Hollywood, drehte dort leichte Kost mit Multimillionen-Budgets – und kehrte 2017 für „Der Hauptmann“ nach Deutschland zurück: das Porträt eines Deserteurs, der 1945 in falscher Uniform sadistischer Mordlust frönte.

Offizieller Filmtrailer


 

Vom Exilanten zum Erzieher Neros

 

Nun also Seneca (1 – 65 n. Chr.), einer der berühmtesten Denker und Autoren der Antike. Dass seine stoische Lehre der Milde, Mäßigung und Gelassenheit gegenüber den Wechselfällen des Daseins im Widerspruch zu seiner Existenz als schwerreicher und gerissener Politiker im Zentrum der Macht stand, kritisierten schon seine Zeitgenossen. Die Konstellation am römischen Kaiserhof Mitte des 1. Jahrhunderts schildert der Film im Zeitraffer mit süffisantem Sarkasmus.

 

Nach acht Jahren Exil auf Korsika, wo er beinahe gestorben wäre, kehrt Seneca (John Malkovich) 49 n. Chr. nach Rom zurück; dort wird er zum Erzieher des zwölfjährigen Thronfolgers Nero (Tom Xander) berufen. Der steigt fünf Jahre später zum Imperator auf und schert sich fortan wenig um Ermahnungen seines Lehrers: Um der Herrschaft willen lässt er nacheinander seinen Stiefbruder Britannicus, seine Mutter Agrippina und Gattin Octavia ermorden.

 

Wie Historien-Trash von Castorf + Meese

 

Das fürchterliche Treiben spult der Film im Eiltempo ab, als Reigen wüster Szenen mit grotesk kostümierten Akteuren in orientalisierendem Dekor – gedreht wurde in Marokko. Heutige Zutaten wie Sonnenbrillen, E-Gitarren oder Martial-Arts-Kampfarenen lassen alles wie überdreht infantilen Historien-Trash wirken, den Theaterregisseure nach dem Vorbild von Frank Castorf seit etlichen Jahren auf deutsche Bühnen wuchten, garniert mit Kulissen von Jonathan Meese.

 

Bis an die Schmerzgrenze geht Regisseur Schwentke, als Seneca in einer Privatvorstellung vor dekadenten Freunden seine Tragödie „Thyestes“ inszeniert: mit Samuel Finzi als dessen Halbbruder Atreus, der Thyestes dazu nötigt, das Fleisch seiner eigenen Kinder zu verspeisen. Indes: Einige solcher blutrünstigen Dramen voller Grausamkeiten hat Seneca wirklich verfasst, vermutlich als abschreckende Warnung vor zügellosen Leidenschaften. Ob sie tatsächlich aufgeführt wurden, ist umstritten – die Verse, die John Malkovich rezitiert, sind original.

 

Formvollendeter Selbstbetrug

 

Der grelle Spuk endet nach einer Dreiviertelstunde, wenn Seneca sich mit einer Schar Gefährten für ein Gastmahl zu einer Art Wüsten-Pavillon begibt. Bevor serviert wird, rückt ein Offizier an: Nero hat den Tod des ihm lästigen Mentors befohlen, weil er angeblich in eine Verschwörung verwickelt sei – er dürfe nur noch wählen, ob er von fremder oder eigener Hand sterben wolle. Als Stoiker entscheidet er sich natürlich für den Freitod.

 

Nun hebt das Drama einer formvollendeten Selbsttäuschung an. Unter Aufbietung sämtlicher rhetorischer Stilmittel beschwört Seneca wortreich, wie bereitwillig und gefasst er mit dem Leben abschließe – doch schreckt er zitternd vor dem Exitus zurück. Wobei er jede Silbe von seinem Getreuen Lucilius aufschreiben lässt, um sie der Nachwelt zu überliefern.

 

Das Jenseits durch Dauermonolog bannen

 

Hintergrund

 

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Gäste, die ihn im Stich lassen, schmäht er als Sklaven ihrer Reichtümer; dagegen beherrsche er seinen Besitz. Seine junge Gattin Paulina (Lilith Stangenberg) nötigt er gar, mit ihm zu sterben – und sieht zu, wie sie fast verblutet, während seine aufgeschlitzten Venen eintrocknen. Dann leert er einen Schierlingsbecher, was auch nichts bewirkt, bis der Offizier Seneca in kochend heißes Wasser stößt.

 

Diesen Todeskampf mitzuverfolgen, wäre eine ähnliche Quälerei, würde Malkovich nicht ein Feuerwerk der Schauspielkunst abbrennen. Er spricht und gestikuliert ohne Unterlass; jede Zeile ein kühner Vergleich, Bonmot oder eine Pointe. Als könne er das Jenseits bannen, solange er nur weiterredet. Seinen geschliffenen Dauermonolog hat Schwentke aus Senecas überlieferten Schriften kompiliert und nur sachte modernisiert. Auch der schaurige Selbstmord-Marathon ist verbürgt: Er benötigte drei Anläufe, bis er seinen Atem aushauchte.

 

Reden, um dem Handeln zu entgehen

 

Seine Agonie betrachtet der Regisseur als „Psychogramm eines Kollaborateurs und Opportunisten, der dem Tyrannen Nero zu Legitimität verhilft“. Doch in Senecas Selbstwiderspruch steckt mehr: die ewige Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Samt der Illusion, durch end- und folgenlose Nonstop-Kommunikation den Zwang zum Handeln ad ultimo aufzuschieben. Wie meist, wenn in Grundsatzansprachen von Zeitenwende die Rede ist.