Allmählich scheint die Antike durch Globalisierung und Digitalisierung endgültig unterzugehen: Unsere auf Turbo-Modernisierung getrimmte Epoche beschäftigt sich kaum noch mit den historischen Fundamenten der europäischen Zivilisation, die eineinhalb Jahrtausende lang als maßgeblich galten. Das war vor 50 Jahren deutlich anders – nicht nur in der akademischen Philosophie und Geschichtsschreibung.
Info
Seneca
Regie: Robert Schwentke,
112 Min., Deutschland/ Marokko 2023;
mit: John Malkovich, Samuel Finzi, Geraldine Chaplin, Lilith Stangenberg
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Vielschichtig schillernde Persönlichkeit
Mittlerweile müssen antike Stoffe als exotische Schauplätze für Fantasy- und Action-Spektakel wie „Gladiator“ (2000) herhalten. Anders behandelt Regisseur Robert Schwentke in „Seneca“ seinen Titelhelden: Er nimmt den römischen Philosophen und Schriftsteller als vielschichtig schillernde Persönlichkeit völlig ernst. Schwentke schlägt quasi die umgekehrte Richtung ein: Nach zwei deutschen Low-Cost-Filmen ging er nach Hollywood, drehte dort leichte Kost mit Multimillionen-Budgets – und kehrte 2017 für „Der Hauptmann“ nach Deutschland zurück: das Porträt eines Deserteurs, der 1945 in falscher Uniform sadistischer Mordlust frönte.
Offizieller Filmtrailer
Vom Exilanten zum Erzieher Neros
Nun also Seneca (1 – 65 n. Chr.), einer der berühmtesten Denker und Autoren der Antike. Dass seine stoische Lehre der Milde, Mäßigung und Gelassenheit gegenüber den Wechselfällen des Daseins im Widerspruch zu seiner Existenz als schwerreicher und gerissener Politiker im Zentrum der Macht stand, kritisierten schon seine Zeitgenossen. Die Konstellation am römischen Kaiserhof Mitte des 1. Jahrhunderts schildert der Film im Zeitraffer mit süffisantem Sarkasmus.
Nach acht Jahren Exil auf Korsika, wo er beinahe gestorben wäre, kehrt Seneca (John Malkovich) 49 n. Chr. nach Rom zurück; dort wird er zum Erzieher des zwölfjährigen Thronfolgers Nero (Tom Xander) berufen. Der steigt fünf Jahre später zum Imperator auf und schert sich fortan wenig um Ermahnungen seines Lehrers: Um der Herrschaft willen lässt er nacheinander seinen Stiefbruder Britannicus, seine Mutter Agrippina und Gattin Octavia ermorden.
Wie Historien-Trash von Castorf + Meese
Das fürchterliche Treiben spult der Film im Eiltempo ab, als Reigen wüster Szenen mit grotesk kostümierten Akteuren in orientalisierendem Dekor – gedreht wurde in Marokko. Heutige Zutaten wie Sonnenbrillen, E-Gitarren oder Martial-Arts-Kampfarenen lassen alles wie überdreht infantilen Historien-Trash wirken, den Theaterregisseure nach dem Vorbild von Frank Castorf seit etlichen Jahren auf deutsche Bühnen wuchten, garniert mit Kulissen von Jonathan Meese.
Bis an die Schmerzgrenze geht Regisseur Schwentke, als Seneca in einer Privatvorstellung vor dekadenten Freunden seine Tragödie „Thyestes“ inszeniert: mit Samuel Finzi als dessen Halbbruder Atreus, der Thyestes dazu nötigt, das Fleisch seiner eigenen Kinder zu verspeisen. Indes: Einige solcher blutrünstigen Dramen voller Grausamkeiten hat Seneca wirklich verfasst, vermutlich als abschreckende Warnung vor zügellosen Leidenschaften. Ob sie tatsächlich aufgeführt wurden, ist umstritten – die Verse, die John Malkovich rezitiert, sind original.
Formvollendeter Selbstbetrug
Der grelle Spuk endet nach einer Dreiviertelstunde, wenn Seneca sich mit einer Schar Gefährten für ein Gastmahl zu einer Art Wüsten-Pavillon begibt. Bevor serviert wird, rückt ein Offizier an: Nero hat den Tod des ihm lästigen Mentors befohlen, weil er angeblich in eine Verschwörung verwickelt sei – er dürfe nur noch wählen, ob er von fremder oder eigener Hand sterben wolle. Als Stoiker entscheidet er sich natürlich für den Freitod.
Nun hebt das Drama einer formvollendeten Selbsttäuschung an. Unter Aufbietung sämtlicher rhetorischer Stilmittel beschwört Seneca wortreich, wie bereitwillig und gefasst er mit dem Leben abschließe – doch schreckt er zitternd vor dem Exitus zurück. Wobei er jede Silbe von seinem Getreuen Lucilius aufschreiben lässt, um sie der Nachwelt zu überliefern.
Das Jenseits durch Dauermonolog bannen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Der Untergang des Römischen Reiches" - hervorragende Triple-Schau über Auslöser seines Verfalls in drei Museen in Trier
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Nero – Kaiser, Künstler und Tyrann" – grandios inszenierte Ausstellungs-Trilogie in drei Trierer Museen
und hier einen Beitrag über den Film "Pompeii" - 3D-Großproduktion über die Zerstörung durch Vesuv-Ausbruch von Paul W.S. Anderson.
Diesen Todeskampf mitzuverfolgen, wäre eine ähnliche Quälerei, würde Malkovich nicht ein Feuerwerk der Schauspielkunst abbrennen. Er spricht und gestikuliert ohne Unterlass; jede Zeile ein kühner Vergleich, Bonmot oder eine Pointe. Als könne er das Jenseits bannen, solange er nur weiterredet. Seinen geschliffenen Dauermonolog hat Schwentke aus Senecas überlieferten Schriften kompiliert und nur sachte modernisiert. Auch der schaurige Selbstmord-Marathon ist verbürgt: Er benötigte drei Anläufe, bis er seinen Atem aushauchte.
Reden, um dem Handeln zu entgehen
Seine Agonie betrachtet der Regisseur als „Psychogramm eines Kollaborateurs und Opportunisten, der dem Tyrannen Nero zu Legitimität verhilft“. Doch in Senecas Selbstwiderspruch steckt mehr: die ewige Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Samt der Illusion, durch end- und folgenlose Nonstop-Kommunikation den Zwang zum Handeln ad ultimo aufzuschieben. Wie meist, wenn in Grundsatzansprachen von Zeitenwende die Rede ist.