Charakterfach späte DDR: Im vorigen Jahr überzeugte Marlene Burow als 18-jähriges Mannequin „In einem Land das es nicht mehr gibt“ von Regisseurin Aelrun Goette, einer gelungenen Reminiszenz an die Modeszene in Ostberlin Ende der 1980er Jahre. Dabei kam Burow erst im Jahr 2000 zur Welt, zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung. Doch nun spielt sie erneut die Hauptrolle in einem Film über die Wendezeit: Als Maria wächst sie in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Emily Atef in der thüringischen Provinz auf.
Info
Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Regie: Emily Atef,
132 Min., Deutschland/ Frankreich 2023;
mit: Marlene Burow, Felix Kramer
Weitere Informationen zum Film
Einzelgänger auf dem Nachbarhof
Ganz unterschiedliche Vorstellungen haben Siegried Brendel (Florian Panzer), Familienvater und Eigentümer des Brendelhofes, und der allein lebende, leicht verschrobene, aber charismatische Henner (Felix Kramer) vom Nachbarhof. Nach dem Tod seiner Frau will er mitsamt seinen Pferden von der Welt in Ruhe gelassen werden; er widersetzt sich beharrlich Brendels Plänen, ihm einen Teil seiner Äcker abzukaufen, um zu expandieren.
Offizieller Filmtrailer
Liebe + Sex auf den ersten Blick
Auf dem Brendelhof lebt auch die 19-jährige Maria; sie floh aus einem zerrütteten Elternhaus. Maria ist die Freundin des Brendelsohnes Johannes (Cedric Eich), mit dem sie gleich in der ersten Szene ausgiebig in warmem Licht beim zärtlichen Liebesspiel gezeigt wird. Die Brendels haben sie wie eine Tochter aufgenommen. Nun gibt sie sich neben der Liebe zu Johannes ihrer Dostojewski-Lektüre und Tagträumereien hin, für die sie ständig leicht bekleidet die Schule schwänzt.
Während Johannes an der Leipziger Kunsthochschule Fotografie studieren will, hat Maria keine großen Ambitionen; sie möchte nirgendwo anders leben als zwischen den in der Sonne liegenden Feldern. Daran ändern auch Ausflüge in den nahen Westen nichts. Bis sie zufällig Henner begegnet; das führt nach wenigen Worten und Berührungen zu ausgiebigem und heftigem Sex, der unbedingt geheim bleiben muss – trotz sichtbarer Knutschflecken am Hals und so intensiven wie ambivalenten Gefühlen.
Archaisches Sich-Fügen in Amour fou
In dieser Amour fou ist die Macht sehr ungleich verteilt, was für beide eine Menge ernster Probleme aufwirft, von denen keines je wirklich besprochen oder gar gelöst wird. Wie sie sich archaisch darein fügen, ihrem Begehren ausgeliefert zu sein, spiegelt dagegen aufs Schönste die Empfindung der Ohnmacht von Individuen gegenüber dem als übermächtig erfahrenen Lauf der Geschichte wider.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "3 Tage in Quiberon" – Biopic über Romy Schneider von Emily Atef
und hier eine Besprechung des Films "In einem Land, das es nicht mehr gibt" – gelungener Rückblick auf die Ostberliner Bohème in der späten DDR von Aelrun Goette mit Marlene Burow
und hier einen Bericht über den Film "Adam und Evelyn" – Romanverfilmung über den Wendesommer 1989 als Vertreibung aus dem Nischenparadies von Andreas Goldstein
und hier einen Beitrag über den Film "Zimmer 212 - In einer magischen Nacht" – musikalische Tragikomödie über Ehebrecherin, die junge Liebhaber bevorzugt, von Christophe Honoré.
Pittoreske Nostalgie-Bilder
Wenn die West-Verwandtschaft der Brendels im Mercedes einfällt, um viel zu viele Fragen zu stellen. Oder wenn Maria und ihre Mutter sich im Trabbi überschlagen, ihn anschließend mit Henners Hilfe wieder auf die Straße stellen und weiterfahren, als sei nichts gewesen. Doch die ländlichen Verhältnisse und dort wohnende, stoische Charaktere ermöglichen, anstelle der üblichen, stereotypen Anekdoten andere Akzente zu setzen.
Auch die exzellenten Darsteller und ihr größtenteils wortkarges Spiel tragen dazu bei – obwohl nicht alle Mitwirkenden den thüringischen Regional-Dialekt wirklich beherrschen. Eines hindert den Film aber, als Parabel über Zeiten des Wandels wirklich Wucht zu entfalten: sein Dauerschwelgen in schönen und pittoresken Bildern der Nostalgie.
Rauere Optik wäre besser
Ständig gibt es jugendliche Hautpartien in Nahaufnahmen zu sehen, golden im Sonnenschein wogende Felder oder Klöppeldeckchen, die in durchs Fenster einfallende Lichtstrahlen getaucht werden. Eine etwas rauere Optik hätte der Sache sehr gedient – um nicht einen Softporno mit seelischem Tiefgang, sondern ein tatsächlich erotisch aufgeladenes Drama vor zeitgeschichtlichem Hintergrund zu schaffen.