Emily Atef

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Henner (Felix Kramer) und Maria (Marlene Burow) sind einander verfallen. Foto: © Pandora Film / Row Pictures
(Kinostart: 13.4.) Softporno mit seelischem Tiefgang: Kurz nach dem Mauerfall erlebt eine 19-Jährige in der thüringischen Provinz eine Amour fou. In der Hauptrolle beeindruckt Marlene Burow als sinnliche Nymphe, Regisseurin Emily Atef schwelgt in pittoresken Bildern – aber alles verpufft folgenlos.

Charakterfach späte DDR: Im vorigen Jahr überzeugte Marlene Burow als 18-jähriges Mannequin „In einem Land das es nicht mehr gibt“ von Regisseurin Aelrun Goette, einer gelungenen Reminiszenz an die Modeszene in Ostberlin Ende der 1980er Jahre. Dabei kam Burow erst im Jahr 2000 zur Welt, zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung. Doch nun spielt sie erneut die Hauptrolle in einem Film über die Wendezeit: Als Maria wächst sie in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Emily Atef in der thüringischen Provinz auf.

 

Info

 

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

 

Regie: Emily Atef,

132 Min., Deutschland/ Frankreich 2023;

mit: Marlene Burow, Felix Kramer

 

Weitere Informationen zum Film

 

An der nach dem Mauerfall bedeutungslos gewordenen innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen und Bayern gibt es nicht viel außer Bauernhöfen, kleinen Dorfgemeinschaften und riesigen Agrarflächen. Mit der Fusion von Ost- und Westdeutschland bieten sich neue Freiheiten, aber zugleich wächst die allgemeine Verunsicherung. Die Bewohner der Gegend fragen sich, wovon sie in Zukunft leben sollen und wie sie die Privatisierung der Landwirtschaft ökonomisch stemmen können.

 

Einzelgänger auf dem Nachbarhof

 

Ganz unterschiedliche Vorstellungen haben Siegried Brendel (Florian Panzer), Familienvater und Eigentümer des Brendelhofes, und der allein lebende, leicht verschrobene, aber charismatische Henner (Felix Kramer) vom Nachbarhof. Nach dem Tod seiner Frau will er mitsamt seinen Pferden von der Welt in Ruhe gelassen werden; er widersetzt sich beharrlich Brendels Plänen, ihm einen Teil seiner Äcker abzukaufen, um zu expandieren.

Offizieller Filmtrailer


 

Liebe + Sex auf den ersten Blick

 

Auf dem Brendelhof lebt auch die 19-jährige Maria; sie floh aus einem zerrütteten Elternhaus. Maria ist die Freundin des Brendelsohnes Johannes (Cedric Eich), mit dem sie gleich in der ersten Szene ausgiebig in warmem Licht beim zärtlichen Liebesspiel gezeigt wird. Die Brendels haben sie wie eine Tochter aufgenommen. Nun gibt sie sich neben der Liebe zu Johannes ihrer Dostojewski-Lektüre und Tagträumereien hin, für die sie ständig leicht bekleidet die Schule schwänzt.

 

Während Johannes an der Leipziger Kunsthochschule Fotografie studieren will, hat Maria keine großen Ambitionen; sie möchte nirgendwo anders leben als zwischen den in der Sonne liegenden Feldern. Daran ändern auch Ausflüge in den nahen Westen nichts. Bis sie zufällig Henner begegnet; das führt nach wenigen Worten und Berührungen zu ausgiebigem und heftigem Sex, der unbedingt geheim bleiben muss – trotz sichtbarer Knutschflecken am Hals und so intensiven wie ambivalenten Gefühlen.

 

Archaisches Sich-Fügen in Amour fou

 

In dieser Amour fou ist die Macht sehr ungleich verteilt, was für beide eine Menge ernster Probleme aufwirft, von denen keines je wirklich besprochen oder gar gelöst wird. Wie sie sich archaisch darein fügen, ihrem Begehren ausgeliefert zu sein, spiegelt dagegen aufs Schönste die Empfindung der Ohnmacht von Individuen gegenüber dem als übermächtig erfahrenen Lauf der Geschichte wider.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "3 Tage in Quiberon" – Biopic über Romy Schneider von Emily Atef

 

und hier eine Besprechung des Films "In einem Land, das es nicht mehr gibt" – gelungener Rückblick auf die Ostberliner Bohème in der späten DDR von Aelrun Goette mit Marlene Burow

 

und hier einen Bericht über den Film  "Adam und Evelyn" – Romanverfilmung über den Wendesommer 1989 als Vertreibung aus dem Nischenparadies von Andreas Goldstein

 

und hier einen Beitrag über den Film "Zimmer 212 - In einer magischen Nacht"  – musikalische Tragikomödie über Ehebrecherin, die junge Liebhaber bevorzugt, von Christophe Honoré.

 

Das Drehbuch zu „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ hat die Autorin Daniela Krien auf der Grundlage ihres eigenen Romans verfasst. Wie in vielen anderen Wendezeit-Erzählungen gibt es auch hier lustige Szenen über die kulturellen Unterschiede und das technische Gefälle zwischen West und Ost.

 

Pittoreske Nostalgie-Bilder

 

Wenn die West-Verwandtschaft der Brendels im Mercedes einfällt, um viel zu viele Fragen zu stellen. Oder wenn Maria und ihre Mutter sich im Trabbi überschlagen, ihn anschließend mit Henners Hilfe wieder auf die Straße stellen und weiterfahren, als sei nichts gewesen. Doch die ländlichen Verhältnisse und dort wohnende, stoische Charaktere ermöglichen, anstelle der üblichen, stereotypen Anekdoten andere Akzente zu setzen.

 

Auch die exzellenten Darsteller und ihr größtenteils wortkarges Spiel tragen dazu bei – obwohl nicht alle Mitwirkenden den thüringischen Regional-Dialekt wirklich beherrschen. Eines hindert den Film aber, als Parabel über Zeiten des Wandels wirklich Wucht zu entfalten: sein Dauerschwelgen in schönen und pittoresken Bildern der Nostalgie.

 

Rauere Optik wäre besser

 

Ständig gibt es jugendliche Hautpartien in Nahaufnahmen zu sehen, golden im Sonnenschein wogende Felder oder Klöppeldeckchen, die in durchs Fenster einfallende Lichtstrahlen getaucht werden. Eine etwas rauere Optik hätte der Sache sehr gedient – um nicht einen Softporno mit seelischem Tiefgang, sondern ein tatsächlich erotisch aufgeladenes Drama vor zeitgeschichtlichem Hintergrund zu schaffen.