Mario Martone

Nostalgia

Felice (Pierfrancesco Favino) begleitet den Pater Luigi Rega (Francesco Di Leva) durch seinen Alltag in der Gemeinde. Foto: © 2022 Picomedia – Mad Entertainment – Medusa Film –Rosebud Entertainment Pictures
(Kino-Start: 8.6.) Rückkehr des verlorenen Sohnes: Ein Neapolitaner kehrt in seine Heimatstadt zurück und stellt fest, dass Nostalgie ein Luxus ist, den sich hier niemand leisten kann. Mit seinem eindrücklichen Metropolenporträt gelingt Regisseur Mario Martone ein Mafia-Film der etwas anderen Art.

Neapel ist keine Stadt wie alle anderen. In Napule, wie die Einheimischen sie liebevoll nennen, gelten eigene Regeln, und die erfordern eine besondere Mentalität. Chaos auf den Straßen, hupende Vespas und das Grollen des Meeres bestimmen den rauen Charme der Stadt. Doch sobald sich die Sonne hinter dem nahegelegenen Vulkan verzieht, verschwinden auch die Menschen, die Fensterläden bleiben geschlossen – und die Angst vor der Camorra geht um. Die Mafia ist in der Region Kampanien trotz zahlreicher Verhaftungen und Verurteilungen bis heute aktiv.

 

Info

 

Nostalgia

 

Regie: Mario Martone,

118 Min., Italien/ Frankreich 2022;

mit: Pierfrancesco Favino, Francesco Di Leva, Tomasso Ragno 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Felice (Pierfrancesco Favino) ist einer der wenigen, die sich Tag und Nacht selbstbewusst durch Neapels enge Gassen bewegen. Er ist in der Stadt aufgewachsen, die er vor 40 Jahren verlassen hat. Während seiner Abwesenheit hat er sich in Kairo ein Leben als Geschäftsmann aufgebaut. Heute ist er verheiratet und führt dort ein erfolgreiches Bauunternehmen. Aber die schwindende Gesundheit seiner Mutter Teresa (Aurora Quattrocchi) ruft ihn nun nach Italien zurück.

 

Ein fürsorglicher Sohn

 

Liebevoll kümmert sich der entfremdete Sohn unmittelbar nach seiner Ankunft um die kleine, zerbrechliche Frau, die kaum noch gehen oder sehen kann. Seine Briefe lässt sie sich schon lange von der Nachbarin vorlesen. In einer der zärtlichsten Szenen des Films badet er Teresa, zunächst gegen ihren Willen. Doch schließlich ist ihre Freude über Felices Besuch größer als die Scham, sich ausgerechnet vor ihm nackt auszuziehen.

Offizieller Filmtrailer


 

Aus ihrer hellen, geräumigen Wohnung in einem der oberen Stockwerke hat sie sich vertreiben lassen. Als Felice zunächst dort nach ihr sucht, öffnet eine junge Mutter die Haustür, die den Platz selbstbewusst für sich beansprucht. Der Sohn ist so empört über die Tatsache, dass Teresa jetzt im Erdgeschoss wohnt, dass er sich sofort nach Alternativen umzuschauen beginnt. Es scheint, als arbeite er die Schuldgefühle gegenüber seiner Mutter mit Fürsorge und Immobilien ab.    

 

Ein krimineller Jugendfreund

 

Gleichzeitig erinnert sich Felice immer wieder an die gute alte Zeit. Stumme Super-8-Rückblenden zeigen ihn in seiner Jugend, die er zusammen mit seinem besten Freund Oreste (Tommaso Ragno) verbracht hat. Sie fuhren Motorradrennen und schwammen im Meer. Sie begingen kleine Gaunereien – mehr nicht. Doch irgendwann passierte ein Mord, der alles veränderte. Felice verschwand, Oreste blieb.

 

Heute ist sein ehemaliger Blutsbruder der Anführer eines kriminellen Clans der Camorra und besser unter seinem Decknamen „Malommo“ bekannt. Felice wird von allen Seiten gewarnt, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Vor allem der gemeindebewusste Priester Don Luigi (Francesco di Leva) versucht, ihm ins Gewissen zu reden; trotzdem macht sich Felice auf die Suche nach Oreste.

 

Stadt ohne Vergangenheit

 

Man muss vielleicht, wie Mario Martone, in Neapel geboren worden sein, um die Stadt so wirkungsvoll in Szene zu setzen wie in „Nostalgia“: ihre Straßen, die Kirchen, dunkle Treppenhäuser und belebte Marktplätze. Sein Film ist ein Spiel aus Licht und Schatten, das immer düsterer wird. Gemeinsam mit seinem Kameramann Paolo Carnera zeichnet der Regisseur ein abgenutztes und doch seltsam intimes Porträt der alten Hafenmetropole. „Die Vergangenheit existiert nicht“, sagt Oreste einmal. Auch die Stadt ist dieselbe, damals wie heute – und Felice ist immer noch gefangen im Sog der Gefühle, mit denen er als 15-Jähriger aus Neapel wegging.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Il Traditore –Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra" - grandioses Anti-Mafia-Epos von Marco Bellocchio

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Mafia ist auch nicht mehr das, was sie mal war" – eigenwillige Doku über Kontakte zwischen Unterhaltungsbranche + organisiertem Verbrechen von Franco Maresco

 

und hier einen Beitrag über den Film "Paranza – Der Clan der Kinder" – fesselndes Dokudrama über Teenie-Mafiosi in Neapel von Claudio Giovannesi

 

Wie in jedem guten Mafia-Film kommt es auch in „Nostalgia“ irgendwann zum Showdown. Felice und Oreste brauchen jedoch keine Waffen, um einander zu verletzen. Ihnen genügen Worte, um alte Wunden aufzureißen und neue zu schaffen. Die Stimmung ist gereizt, Oreste mittlerweile ein gebrochener Mann. Er hat Mühe, Felice in die Augen zu schauen. Und Felice will die Hoffnung nicht aufgeben. Er plant sogar, gänzlich in die Heimat zurückzukehren, egal um welchen Preis.

 

Eine Welt der Gefahr

 

Ein stoisch-charismatischer Pierfrancesco Favino spielt diesen Dickkopf perfekt. Der italienische Schauspieler wirkt sympathisch auf eine stille Art und Weise: die Stirn stets gerunzelt, das Kinn gesenkt. Er trägt sichtbar die Last der Vergangenheit auf seinen Schultern. Gleichzeitig fügt er sich nahtlos ins Stadtleben ein, als sei er immer noch ein Teil davon – auch wenn er weiß, dass dem nicht so ist.

 

Bei aller Sensibilität, mit der er sich Felice und seiner Geschichte widmet, suggeriert Martones Film deutlich, dass die Verbrechen und der Terror der Mafia längst nicht überwunden sind. Aufmerksam beobachtet er das Geschehen, die Menschen, die Stadt. „Nostalgia“ zeigt eine Welt der Gefahr, die im Schweigen, in flüchtigen Blicken und winzigen Gesten ihre ganze Grausamkeit offenbart. Schmerzliche Erinnerungen werden mit einer unromantischen Gegenwart konfrontiert.