Aslı Özge

Black Box

Hausverwalter Johannes Horn (Felix Kramer) im Innenhof mit den Nachbarn vor der anrückenden Polizei. Foto: Emre Erkmen/ Port au Prince Pictures
(Kinostart: 10.8.) Es geht ein Gespenst um im Berliner Mietshaus: Regisseurin Aslı Özge inszeniert die Belastungsprobe einer Hausgemeinschaft im von der Polizei verhängten Lockdown treffsicher und schonungslos, aber manchmal hart am Rand der Glaubwürdigkeit.

Die ganze Aktion dauert nur ein paar Minuten, dann ist der Kasten im Hinterhof platziert. Kurze Zeit später fliegt das erste Ei. Es trifft Johannes Horn (Felix Kramer) von der Hausverwaltung hinten rechts an der Schulter, weil den Bewohnern sein neues Büro nicht passt. Mitten im Innenhof steht jetzt ein schwarzer Container aus Stahl und Glas. Deswegen bleibt kein Platz mehr für die Mülltonnen. Das ist natürlich ein Problem.

 

Info

 

Black Box

 

Regie: Aslı Özge,

120 Min., Deutschland/ Belgien 2023;

mit: Luise Heyer, Felix Kramer, Christian Berkel, Anne Ratte-Polle

 

Weitere Informationen zum Film

 

In der Kastanienstraße 32 stimmt die Welt nicht mehr, und mit Horn fängt der Ärger an. Seitdem er im Haus das Sagen hat, herrscht Unruhe. Ein paar Mieter treffen sich abends im Hof, um zu beraten, was zu tun ist.  Plötzlich kreist ein Hubschrauber über dem Dach. Am nächsten Morgen steht ein Anti-Terrorkommando der Polizei vor der Tür. Niemand weiß, was los ist. Aber sicher ist: Fürs erste kommt hier keiner mehr rein oder raus.

 

Mikrokosmos Mietshaus

 

Diese Lockdown-Situation nutzt Aslı Özge als Ausgangspunkt für ihren Film. Die Prämisse ist bestechend einfach, die Wirkung gewaltig: Kaum ist die Einfahrt verriegelt, fühlt man sich mit den Mietern aufs Engste verbunden. Man spürt ihre Hilflosigkeit, das Misstrauen, die Anspannung, den Groll. Ihre Anliegen sind alltäglich und relevant: Der Müll stinkt, wichtige Vorstellungsgespräche können nicht warten, eine Frau muss zur Dialyse ins Krankenhaus. Aber ohne die nötigen Papiere beißt man auch im Mikrokosmos von „Black Box“ ganz schnell auf Granit.

Offizieller Filmtrailer


 

Schreckgespenst Gentrifizierung

 

Über allem hängt die Ungewissheit, was es mit Horn und seinem schwarzen Kasten auf sich hat. Gentrifizierung ist das Stichwort, und es macht den Menschen mehr Angst als die Leiche, die bald auf dem Dachboden gefunden wird. Die Mieterin Henrike Koch (Luise Heyer) sah den Toten am Morgen noch ins Haus gehen, berichtet sie später der Polizei. Aber viel schlimmer findet sie, dass die Wohnung, in der sie mit ihrem Mann (Sascha Alexander Gersak) und dem gemeinsamen Sohn lebt, wahrscheinlich demnächst saniert und verkauft werden soll.

 

Özge, die auch das Drehbuch geschrieben hat, vermischt in ihrem spannungsgeladenen Drama verschiedene Schicksale, Gesellschaftsschichten und Genre-Elemente auf zum Teil explosive Weise. Die türkische Regisseurin kam vor mehr als 20 Jahren aus Istanbul nach Berlin. Mit viel Gefühl für die Empfindlichkeiten ihrer Mitmenschen zeigt sie, wie es heutzutage auf hauptstädtischen Hinterhöfen und hinter verschlossenen Fenstern zugeht.

 

Druck lässt die Gerüchteküche brodeln

 

Je größer der Druck von außen wird, desto mehr wird das friedliche Miteinander der Hausgemeinschaft auf die Probe gestellt. Der Ausnahmezustand bringt die innere Ordnung des fragilen Systems durcheinander. Zum Vorschein kommen die psychologischen Mauern in den Köpfen der Menschen, die schon lange vorher da waren – und die bleiben, wenn die Polizei die Ausgangssperre wieder aufhebt.

 

Eindrücklich beschreibt der Film, wie die Gerüchteküche brodelt: Die kleine Bäckerei unten im Haus solle bald einer Galerie weichen, hat eine Bewohnerin beim Pilates-Kurs gehört. Dem Kellner – immerhin der Cousin der Besitzerin – ist das neu. Auch was die Sanierungspläne angeht, hat bald jeder etwas zu sagen. Panik und Argwohn machen sich breit. Aus Freunden werden Feinde. Irgendwann stehen in dem maroden Gebäudekomplex nicht mehr nur Wohnungen, sondern Ehen, Überzeugungen und Existenzen auf dem Spiel.

 

Der Verwalter und der Fanatiker

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" – sinnliches Erotikdrama über Amour fou in der thüringischen Provinz von Emily Atef mit Felix Kramer

 

und hier eine Besprechung des Films "Nahschuss" – eindringliches Psychodrama über das letzte Todesopfer der DDR-Justiz von Franziska Stünkel mit Luise Heyer

 

und hier einen Beitrag über den Film "Victoria" – rasanter Nachtleben-Krimi aus Berlin von Sebastian Schipper, beim Deutschen Filmpreis 2015 mit sechs Lolas prämiert

 

und hier einen Beitrag über den Film "Berlin Syndrom" – fesselnder Psychothriller über Kidnapper von Cate Shortland.

 

Vorangetrieben wird die Handlung von der Widersprüchlichkeit, die Felix Kramers Figur umgibt. Er spielt den Aufpasser der Hausverwaltung als einen Kumpel-Typ, dem nicht zu trauen ist. Seine Stimme ist sanft, sein Blick ernst und besorgt. Er gibt vor, für alle ein offenes Ohr zu haben, nimmt sich Zeit und hat Geduld. Aber als es hart auf hart kommt, führt er rigide Verhaltensregeln ein, die im Haus für Ruhe und Sicherheit sorgen sollen.

 

Nicht alle Figuren sind mit der gleichen Sorgfalt ausgearbeitet: Dass sich im Zuge der polizeilichen Ermittlungen ausgerechnet die ausländischen Nachbarn als Hauptverdächtige herausstellen, wirkt beispielsweise vorprogrammiert. Erik Behr (Christian Berkel), ein strenger Lehrer und der eigentliche Fanatiker im Haus, hetzt derweil die Mieter gegeneinander auf. Schließlich wird er selber zum Opfer der Feindseligkeit, die er mit seiner Verbissenheit von Anfang an befeuert hat.

 

Film als Black Box

 

Manchmal trifft die Filmemacherin dramatische Entscheidungen, die hart an der Grenze zur Glaubwürdigkeit vorbeischrammen. Manchmal dehnt sich die Handlung derart aus, dass die Spannung nachlässt. Aber viele Dialoge treffen ins Schwarze, weil noch die klischeehaftesten Figuren eine traurige Realität widerspiegeln, vor der niemand sicher ist; auch die Zuschauer nicht. Der Film selbst fungiert so als Black Box, die vor Augen führt, was passiert, wenn gegensätzliche Machtinteressen, soziale Vorurteile und die Ängste der Mittelschicht aufeinanderprallen.