Nida Manzoor

Polite Society

Raheela (Nimra Bucha, li.) und Ria (Priya Kansara) kämpfen um das Eheglück von Rias Schwester Lena. Foto: Parisa Taghizadeh / © 2023 Focus Features. Fotoquelle: UPI Media
(Kino-Start: 24.8.) Schwesterherz mit Kung-Fu-Kicks vor einer Mesalliance retten: Der wilde Genre-Mix aus Coming-of-Age, Bollywood, Eastern und Romcom von Regisseurin Nida Manzoor wirbelt eine britisch-pakistanischen Familie gehörig durcheinander – wobei die ganze Vollgas-Action sich um Frauen dreht.

Ria (Priya Kansara) hat es nicht leicht: Sie ist eine hartnäckige Teenagerin mit Ambitionen und Kampfgeist im Blut. Sobald sie erwachsen ist, will sie als Stunt-Profi arbeiten. Dafür trainiert sie täglich und dreht schon mal eigenhändig Videos für ihren Social-Media-Account. Aber ihre Leidenschaft für halsbrecherische Martial-Arts-Action kommt weder in der Schule noch bei ihren traditionsbewussten britisch-pakistanischen Eltern gut an.

 

Info

 

Polite Society

 

Regie: Nida Manzoor,

106 Min., Großbritannien 2023;

mit: Priya Kansara, Ritu Arya, Nimra Bucha

 

Weitere Informationen zum Film

 

Zum Glück ist ihre ältere Schwester Lena (Ritu Arya) wieder zuhause eingezogen, nachdem sie ihr Kunststudium abgebrochen hat. Ria sieht sie als die Tollste, Beste und Stärkste, aber Lena ist betrübt. Sie weiß nicht, wohin mit sich – bis sie eines Tages den wohlhabenden Arzt Salim (Akshay Khanna) kennenlernt. Dass ihre Mutter die Begegnung eingefädelt hat, stört Lena nicht; schon beim ersten Date verliebt sie sich.

 

Tausche Freigeist gegen Verlobungsring

 

Danach geht alles sehr schnell: Anstelle von dicken Kapuzenpullis trägt Lena plötzlich Strickjacken. Bald tauscht sie ihren Freigeist gegen einen funkelnden Verlobungsring ein – und Ria ist fassungslos: Bisher waren beide Schwestern immer unzertrennlich. Aus Angst, ihre engste Verbündete zu verlieren, wehrt sich Ria vehement gegen die geplante Heirat. Mit Hilfe ihrer besten Freundinnen spioniert sie den Bräutigam in spe heimlich aus. Keine noch so absurde Idee wird ausgelassen, um Lena vor dem drohenden Unglück zu schützen. Aber Ria hat die Rechnung ohne Salims Mutter Raheela (Nimra Bucha) gemacht.

Offizieller Filmtrailer


 

Frauen stützen Patriarchalismus

 

Im Prinzip erkundet Regisseurin Nida Manzoor mit ihrem Debüt-Spielfilm die Handlungsspielräume von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. Originell daran ist, wie ihr Film deutlich macht, das dieses System nicht nur von den Männern aufrechterhalten wird. Die wohlhabende Raheela weist immer wieder darauf hin, dass sie ihr Leben für ihren Sohn aufgegeben habe. Und während Lena Befreiung in der Liebe sucht, wird ihre künftige Ehe von anderen bestimmt.

 

Auf dem Prüfstand stehen bekannte Themen: Von familiären Beziehungen und Identitätskonflikten über Teenagersorgen bis zu Schönheitsidealen ist alles dabei. Dabei stellt „Polite Society“ konsequent Frauen in den Mittelpunkt: Mütter, Töchter, Schwestern, Freundinnen und Rivalinnen. Ihre Reaktionen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse sind divers und komplex.

 

Hauptrolle für junges Raubtier

 

Diese Vielfalt überträgt sich auch auf die Inszenierung: Manzoor packt ihre streckenweise recht konventionelle Handlung in einen wilden Genre-Mix aus Coming-of-Age-Highschool-Komödie, Bollywood, Sci-Fi-Horror, Eastern, Romcom und Musical. Gewürzt ist das Ganze mit einem Hauch von Jane Austen und der Schlagkraft von Jackie Chan, inklusive Kung-Fu-Kämpfen in Zeitlupe, sowie comicartigen Zwischentiteln in knalligen Farben und Großbuchstaben.

 

Die unberechenbare Energie des Films entspricht dem brodelnden Chaos in Rias Kopf. Als aufstrebende Stunt-Frau poltert sie mit nicht immer treffsicheren Kickbox-Tritten durch ihr eigenes Leben – ohne Rücksicht auf Verluste oder die Menschen um sie herum. Priya Kansara spielt diesen Heißsporn wie ein junges Raubtier, flink und bissig, mit zusammengezogenen Augenbrauen und schwelender Wut im Bauch.

 

Vor zehn Jahren kümmerte Erstfassung keinen

 

Ähnlich impulsiv macht sich die junge Regisseurin ans Werk. Manzoor geht immer aufs Ganze; für Metaphern oder Subtilität hat sie keine Zeit. Inspiriert wurde die seit ihrer Kindheit in London lebende Tochter einer pakistanischen Familie von Blockbuster-Hits wie „Kill Bill“ oder „The Matrix“ und dem durchtriebenen Humor der Coen-Brüder.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Everything Everywhere All At Once" – hochtourige Multiversum-Actionkomödie von Daniel Kwan + Daniel Scheinert, prämiert mit sieben Oscars 2023

 

und hier eine Besprechung des Films "What’s Love got to do with it?" – leichtfüßige anglo-pakistanische Romcom über eine arrangierte Ehe von Shekhar Kapur

 

und hier einen Bericht über den Film "West is West" – turbulente britisch-pakistanische Culture-Clash-Komödie von Andy De Emmony

 

und hier einen Beitrag über den Film "Drachenmädchen" – anschauliche Doku über den Drill an Chinas größter Kampfkunst-Schule von Inigo Westmeier.

 

Doch ihre eigene ältere Schwester habe ebenfalls enormen Einfluss auf sie gehabt, erzählt die Regisseurin der britischen Tageszeitung „The Guardian“: „Sanya war schon immer eine Rebellin, und ich hasste es, wenn man ihr sagte, was sie zu tun hatte.“ Die Schwester sei ihre Muse geworden, so dass ihr das Schreiben leicht von der Hand gegangen sei. Eine erste Drehbuchfassung war bereits vor zehn Jahren fertig – nur interessierte sich damals noch niemand für einen derart verspielten und zugleich emanzipierten Stoff.

 

Zweite Hälfte wirkt etwas überdreht

 

Heute wirkt die rasante weibliche empowerment-Geschichte um so frischer. Vor allem in der ersten Hälfte kann Manzoor mit ihrer Vollgas-Strategie punkten. Schwieriger wird es im zweiten Teil; darin kippt der Tonfall des Films zeitweilig ins schrill Extreme. Aber das Horror-Szenario, das Ria sich ausmalt, wirkt allzu übertrieben. Danach gerät mit ihrem Plan, ihre Schwester zu retten, auch der Film aus seinem ohnehin prekären Gleichgewicht.

 

Wie beim spektakulären Fußkick von Jackie Chan, der Ria einfach nicht gelingen will, übernimmt sich am Ende auch Manzoor bei ihrem Kinodebüt. Bisher hatte die Regisseurin vor allem mit der preisgekrönten britischen Sitcom „We Are Lady Parts“ auf sich aufmerksam gemacht. In „Polite Society“ setzt sie nun alles auf eine Karte – und das Ergebnis ist allemal sehenswert. Für die Leidenschaft, mit der sie inszeniert, und den Spaß, den das Zusehen macht, verdient sie auch international Aufmerksamkeit.