Michelle Yeoh

Everything Everywhere All At Once

Evelyn (Michelle Yeoh) wird in einer Parallelwelt von ihrer Ausbilderin (Jing Li) in Kampfkunst unterrichtet. Foto: Leonine Distribution
(Kinostart: 28.4.) Das Finanzamt als Tor zum Paralleluniversum: Weil sie Ärger mit der Steuererklärung hat, mutiert eine chinesische Hausfrau zur multiplen Superheldin. Überbordendes Ideen- und Bildergewitter vom Regieduo Kwan/ Scheinert für ein knallbuntes Anarcho-Märchen.

Lob der Tagträume: Wer ist nicht schon einmal bei langweiligen Tätigkeiten gedanklich in eine andere Welt abgedriftet – oder hat sich zumindest gewünscht, denjenigen zu quälen, der ihm diese öde Routine eingebrockt hat? Damit ist nicht Hausarbeit gemeint, sondern wirklich lästige Dinge wie etwa die Steuererklärung. Diese banale Alltagssituation dient dem Regieduo Dan Kwan und Daniel Scheinert, auch „The Daniels“ genannt, als Rahmenhandlung für ihren neuen Film.

 

Info

 

Everything Everywhere All At Once

 

Regie: Dan Kwan + Daniel Scheinert,

139 Min., USA 2022;

mit: Michelle Yeoh, Jamie Lee Curtis, Stephanie Hsu

 

Weitere Informationen zum Film

 

„The Daniels“: Das klingt mehr nach Las Vegas oder Zirkus als nach Filmkunst. Ein Prise Las-Vegas-Show ist auch dabei, wenn das Duo seine schlauen, witzigen oder überkandidelten Regieideen umsetzt: Beide brennen auf der Leinwand ein visuelles Feuerwerk ab, das man kaum nacherzählen kann.

 

Sadistin mit Topfdeckel-Haarschnitt

 

Alles beginnt mit erwähnter Steuererklärung, die Waschsalon-Betreiberin Evelyn Wang (Michelle Yeoh) schleunigst abgeben soll. Sie zittert vor Angst im Angesicht der sadistischen Finanzbeamtin (Jamie Lee Curtis mit Topfdeckel-Haarschnitt), die pedantisch nach der kleinsten Nachweislücke fahndet, wobei sie Sprach- und Verständnisprobleme nur bedingt gelten lässt.

Offizieller Filmtrailer


 

Steuerbeamten als mordlüsterne Gestalten

 

Mit ihre Tochter (Stephanie Hsu), die ihr sonst als Dolmetscherin dient, hat sich Evelyn verkracht. Zudem steht der Besuch ihres konservativen Vaters ins Haus, und ihr melancholischer Ehemann (Ke Huy Quan) ist auch keine Stütze. Umso größer ihr Erstaunen, als im Finanzamt urplötzlich ihr sonst so zurückhaltender Gatte buchstäblich aus sich heraustritt und erklärt, in anderen Universen seien beide damit beschäftigt, das namenlose Böse zu bekämpfen.

 

Nach diesem Schock verwandeln sich die Steuerbeamten ringsum flugs in mordlüsterne Gestalten, um kurz darauf wieder an alter Stelle in Belegen zu wühlen. Diese kurze buchstäbliche Verrückung der Wirklichkeit dient als Einstieg in alle anderen Welten; also ein von den beiden Daniels erdachtes Multiversum. Es ist gespickt mit Zitaten populärer Filme, angefangen beim Horrorfilm „Shining“ (1980) von Regisseur Stanley Kubricks über seinen SciFi-Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968) bis zum Animations-Hit „Ratatouille“ (2007). Was zeigt, dass man keine Hightech-Materialschlacht braucht, um in sich schlüssige Parallel-Universen zu entwerfen.

 

Wie viele Identitäten hätten Sie gern?

 

Das leichte Verrücken der Wahrnehmung nutzten die Daniels bereits in ihrem Spielfilmdebüt „Swiss Army Man“ (2016). Darin bedient sich ein scheinbar auf einer einsamen Insel Gestrandeter einer angeschwemmten Wasserleiche (gespielt von Daniel Radcliffe) als Allzweck-Werkzeug: also als Boot, Jagdköder oder einfach als Gesprächspartner. Auf diese Weise verdrehte das D+D-Duo intelligent das Robinson-Crusoe-Motiv, samt überraschender Auflösung.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Valerian - Die Stadt der tausend Planeten (3D)" – originelle ScFi-Comic-Action von Luc Besson

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Kubricks 2001 – 50 Jahre „A Space Odyssey“" – glänzende Schau über Entstehung + Rezeption von Stanley Kubricks SciFi-Meisterwerk im Deutschen Filmmuseum, Frankfurt/ Main

 

und hier einen Artikel über den Film "Jesus Shows You the Way to the Highway" - stimmige Science-Fiction-Groteske voller Popkultur-Zitate von Miguel Llansó

 

und hier einen Bericht über den Film "The Lady - Ein geteiltes Herz" – Biopic über Friedens-Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi in Myanmar von Luc Besson mit Michelle Yeoh

 

und hier einen Beitrag über den Film  "A Touch of Zen"grandioser Kampfkunst-Klassiker (1971) aus Taiwan von King Hu.

 

Diese fällt in „Everything Everywhere All At Once” – wörtlich: “Alles Überall Gleichzeitig” – nicht ganz so spektakulär aus; sie läuft auf irgendetwas mit Familienzusammenhalt und einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung hinaus. Doch im Zentrum steht etwas Anderes: Nicht nur der Hauptfigur, sondern allen Familienmitgliedern werden in jeder Hinsicht diverse alternative Identitäten mit verschiedenen Stärken spendiert. In Summe ergeben sie, wen wundert’s, die ureigene Individualität jedes Menschen.

 

Michelle Yeoh kreuzt die Klingen

 

Der rasante Identitäts-Wechsel ist vor allem ein wahrer Selbstverwirklichungs-Traum für die Schauspieler. Ihr Spaß am Ausprobieren so vieler Figuren in kürzester Zeit überträgt sich auch aufs Publikum. Hauptdarstellerin Michelle Yeoh darf sich noch einmal – wie im Kampfkunst-Film „Tiger and Dragon“ (2000) von Ang Lee, mit dem sie ihren internationalen Durchbruch hatte – im Schwertkampf üben. Dabei mutiert sie unfreiwillig zur alles massakrierenden Heroine, wobei sie geläufige Heldenepos-Klischees zugleich augenzwinkernd unterwandert. Von einer chinesischen Hausfrau erwartet man landläufig eigentlich etwas anderes.

 

Viele skurrile Spezialeffekte im Film sind sichtlich handgemacht; das verweist auf Genre-Klassiker wie die seit 1963 von der BBC produzierte SciFi-TV-Serie „Doctor Who“, in der etwa eine alte englische Polizei-Notrufzelle als „Zeit-Raum-Maschine“ dient. Dagegen scheint das fiebrige Erzähltempo mit extrem schnellen Schnitten eher der Ästhetik von Manga-Comics entlehnt; wie bei diesen ist dramaturgische Schlüssigkeit eher zweitrangig.

 

Sinnfreie Würstchenfinger-Menschen

 

Ob man das eine oder andere Universum sinnvoll findet – etwa das der Würstchenfinger-Menschen, die sich nicht berühren können – bleibe dahingestellt; es ist auch eher unwichtig. Nach einer Weile ergibt sich der Betrachter schlicht der auf ihn einprasselnden Ideenflut. Am besten genießt man das überbordend phantasievolle Bildergewitter als knallbuntes, leicht anarchisches Märchen, das übliche Genregrenzen locker sprengt.