1988 beginnt sich in Großbritannien allmählich der gesellschaftliche Umgang mit sexuellen Minderheiten zu ändern. Als die Tory-Regierung unter Premierministerin Margaret Thatcher ein Gesetzespaket beschließt, das lokalen Behörden die „Förderung von Homosexualität“ untersagt, werden landesweit Proteste laut. Auch Jean (Rosy McEwen) ist von der Gesetzesinitiative schockiert, doch sie wehrt sich nicht. Sie weiß: Noch ist die Zeit für ein allgemeines Umdenken nicht reif.
Info
Blue Jean
Regie: Georgia Oakley,
97 Min., Großbritannien 2022;
mit: Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday
Weitere Informationen zum Film
Tarnung + Distanz
Außerdem ist ihre Angst vor offenen Anfeindungen noch zu groß. So hält sie ihre sexuelle Orientierung auch im Kollegium weiterhin geheim. Ihr reicht, was sie aus den Gesprächen im Lehrerzimmer heraushören kann. Ihre blondgefärbten kurzen Haare dienen ebenso der Tarnung wie die ausgebeulten Jogginghosen und Sweatshirts, die sie im Unterricht trägt. Wenn sich die Kollegen nach der Schule auf ein Bier im Pub treffen, hält sie sich fern. Lieber schleicht sie sich ins Gemeindezentrum, wo sie unter Gleichgesinnten sein kann.
Offizieller Filmtrailer
Schikane unter Schülerinnen
Ihren Schülern gegenüber wirkt Jean selbstbewusster. Sie setzt ihren jugendlichen Schützlingen klare Grenzen, indem sie auf Pünktlichkeit besteht und jeden Anflug von Mobbing im Keim zu ersticken versucht. Doch die Fassade, die sie zum Selbstschutz aufgebaut hat, beginnt zu bröckeln, als eine ihrer Schülerinnen in der örtlichen Lesbenbar auftaucht, die Jean mit ihrer neuen Freundin Viv (Kerrie Hayes) besucht.
Lois (Lucy Halliday) ist 15 Jahre alt, unsicher und verwirrt. Bald werden auf dem Schulhof Gerüchte über ihre sexuelle Orientierung laut. Immer öfter wird sie von den anderen Mädchen in der Klasse schikaniert. Zunächst versucht Lois, die Unterstellungen halbherzig zu leugnen. Erst als eine Mitschülerin sie in eine Falle lockt, wehrt sie sich mit Händen und Füßen – und wird dafür prompt mit einem Schulverweis bestraft.
Innere Zerrissenheit
Auch Jean ist in den Vorfall involviert. Aber als die Angelegenheit im Büro des Direktors besprochen wird, entscheidet sie sich zu schweigen. Das Risiko einer Entlarvung wäre zu groß. Hilflosigkeit und Verzweiflung sprechen aus ihrem glasigen Blick. Sie will Lois helfen, traut sich aber nicht. Ihr schlechtes Gewissen setzt sich in dem Moment wie ein roter Ausschlag am Hals fest.
Dass die Szene so sehr bewegt wie der Film insgesamt, ist dem nuancierten Spiel von Hauptdarstellerin Rosy McEwen zu verdanken, die mit ihrer Figur leidet und lebt. In einem anderen Schlüsselmoment zwischen Jean und Viv spürt man ihre innere Zerrissenheit so sehr, dass es einem fast das Herz bricht. „Sich dem Regime der Scham widersetzen“, steht im Klo der Lesbenbar an der Wand. Es dauert den ganzen Film lang, bis Jean das gelingt.
Selbstbewusstes Debüt
Hintergrund
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Dabei schildert der Film mit feinfühliger Beobachtungsgabe, wie Jean an den äußeren Umständen zu zerbrechen droht. Ihr Versuch, sich unauffällig zwischen zwei Welten einzurichten, die sich gegenseitig nicht anerkennen, muss scheitern. Die Frage ist, ob sie sich der Heuchelei beugen oder den Verlust ihrer Existenzgrundlage riskieren soll. Eine Rebellin wollte sie nie sein. Aber wenn sie sich selbst treu bleiben will, hat sie keine andere Wahl.
Konzentriert + intensiv
Diese Einsicht, so spät sie kommen mag, vereint Jean mit Lois und Viv. Oakley zeigt sie als Vorkämpferinnen für gesellschaftliche Anerkennung. Doch auch gegenüber den anderen Frauenfiguren verhält sich der Film respektvoll. Wenn ihre Schwester sich hartnäckig weigert, das Hochzeitsfoto von Jean und ihrem Ex-Mann abzuhängen, spiegelt sich in ihren Augen eine schmerzliche Sehnsucht nach Halt und Normalität.
Aus der klugen Inszenierung von flüchtigen Momenten wie diesem gewinnt der Film seine Kraft. Zugleich hat Hauptdarstellerin McEwen den emotionalen und moralischen Kampf ihrer Figur so tief verinnerlicht, dass man schnell vergisst, dass sie eine fiktive Person verkörpert. „Blue Jean“ ist zurückhaltendes Kino, hochkonzentriert und beklemmend intensiv, das immer Bodenhaftung bewahrt und nie über die Stränge schlägt.