Georgia Oakley

Blue Jean

Jean Newman (Rosy McEwen) kämpft für ihre Rechte. Foto: Salzgeber
(Kinostart: 5.10.) Gegen das Regime der Scham: Ende der 1980er Jahre setzen sich Homosexuelle in Großbritannien gegen Diskriminierung zur Wehr, wie der Debütfilm von Regisseurin Georgia Oakley zeigt. Ihre nuanciert spielende Hauptdarstellerin wird als Lehrerin zur Rebellin wider Willen.

1988 beginnt sich in Großbritannien allmählich der gesellschaftliche Umgang mit sexuellen Minderheiten zu ändern. Als die Tory-Regierung unter Premierministerin Margaret Thatcher ein Gesetzespaket beschließt, das lokalen Behörden die „Förderung von Homosexualität“ untersagt, werden landesweit Proteste laut. Auch Jean (Rosy McEwen) ist von der Gesetzesinitiative schockiert, doch sie wehrt sich nicht. Sie weiß: Noch ist die Zeit für ein allgemeines Umdenken nicht reif.

 

Info

 

Blue Jean

 

Regie: Georgia Oakley,

97 Min., Großbritannien 2022;

mit: Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday

 

Weitere Informationen zum Film

 

Als junge lesbische Frau ist Jean betroffen von der Atmosphäre zwischen Aufbruch und Resignation, welche die queere Szene beherrscht. Erst vor kurzem hat sich die engagierte Sportlehrerin im nordenglischen Newcastle ihrer eigenen Familie gegenüber geoutet. Das war schwer genug. Eine Scheidung liegt hinter ihr; jetzt will sie nach vorne blicken und frei sein – aber es gelingt ihr nicht. Jeden Tag kämpft sie mit sich und gegen eine Welt, die mit dem Anderssein noch immer ihre Probleme hat.

 

Tarnung + Distanz

 

Außerdem ist ihre Angst vor offenen Anfeindungen noch zu groß. So hält sie ihre sexuelle Orientierung auch im Kollegium weiterhin geheim. Ihr reicht, was sie aus den Gesprächen im Lehrerzimmer heraushören kann. Ihre blondgefärbten kurzen Haare dienen ebenso der Tarnung wie die ausgebeulten Jogginghosen und Sweatshirts, die sie im Unterricht trägt. Wenn sich die Kollegen nach der Schule auf ein Bier im Pub treffen, hält sie sich fern. Lieber schleicht sie sich ins Gemeindezentrum, wo sie unter Gleichgesinnten sein kann.

Offizieller Filmtrailer


 

Schikane unter Schülerinnen

 

Ihren Schülern gegenüber wirkt Jean selbstbewusster. Sie setzt ihren jugendlichen Schützlingen klare Grenzen, indem sie auf Pünktlichkeit besteht und jeden Anflug von Mobbing im Keim zu ersticken versucht. Doch die Fassade, die sie zum Selbstschutz aufgebaut hat, beginnt zu bröckeln, als eine ihrer Schülerinnen in der örtlichen Lesbenbar auftaucht, die Jean mit ihrer neuen Freundin Viv (Kerrie Hayes) besucht.

 

Lois (Lucy Halliday) ist 15 Jahre alt, unsicher und verwirrt. Bald werden auf dem Schulhof Gerüchte über ihre sexuelle Orientierung laut. Immer öfter wird sie von den anderen Mädchen in der Klasse schikaniert. Zunächst versucht Lois, die Unterstellungen halbherzig zu leugnen. Erst als eine Mitschülerin sie in eine Falle lockt, wehrt sie sich mit Händen und Füßen – und wird dafür prompt mit einem Schulverweis bestraft.

 

Innere Zerrissenheit

 

Auch Jean ist in den Vorfall involviert. Aber als die Angelegenheit im Büro des Direktors besprochen wird, entscheidet sie sich zu schweigen. Das Risiko einer Entlarvung wäre zu groß. Hilflosigkeit und Verzweiflung sprechen aus ihrem glasigen Blick. Sie will Lois helfen, traut sich aber nicht. Ihr schlechtes Gewissen setzt sich in dem Moment wie ein roter Ausschlag am Hals fest.

 

Dass die Szene so sehr bewegt wie der Film insgesamt, ist dem nuancierten Spiel von Hauptdarstellerin Rosy McEwen zu verdanken, die mit ihrer Figur leidet und lebt. In einem anderen Schlüsselmoment zwischen Jean und Viv spürt man ihre innere Zerrissenheit so sehr, dass es einem fast das Herz bricht. „Sich dem Regime der Scham widersetzen“, steht im Klo der Lesbenbar an der Wand. Es dauert den ganzen Film lang, bis Jean das gelingt.

 

Selbstbewusstes Debüt

 

Hintergrund

 

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Wie ein Erstlingswerk wirkt „Blue Jean“ nicht, obwohl es eines ist. Das Spielfilmdebüt von Georgia Oakleys tritt deutlich selbstbewusster auf als seine Titelheldin, und die Regisseurin scheut sich nicht, neuralgische Punkte anzusprechen. Auch der 1980er-Jahre-Zeitgeist zwischen Synthiepop à la „New Order“ und Bomberjacken transportiert das sensible Drama perfekt.

 

Dabei schildert der Film mit feinfühliger Beobachtungsgabe, wie Jean an den äußeren Umständen zu zerbrechen droht. Ihr Versuch, sich unauffällig zwischen zwei Welten einzurichten, die sich gegenseitig nicht anerkennen, muss scheitern. Die Frage ist, ob sie sich der Heuchelei beugen oder den Verlust ihrer Existenzgrundlage riskieren soll. Eine Rebellin wollte sie nie sein. Aber wenn sie sich selbst treu bleiben will, hat sie keine andere Wahl.

 

Konzentriert + intensiv

 

Diese Einsicht, so spät sie kommen mag, vereint Jean mit Lois und Viv. Oakley zeigt sie als Vorkämpferinnen für gesellschaftliche Anerkennung. Doch auch gegenüber den anderen Frauenfiguren verhält sich der Film respektvoll. Wenn ihre Schwester sich hartnäckig weigert, das Hochzeitsfoto von Jean und ihrem Ex-Mann abzuhängen, spiegelt sich in ihren Augen eine schmerzliche Sehnsucht nach Halt und Normalität.

 

Aus der klugen Inszenierung von flüchtigen Momenten wie diesem gewinnt der Film seine Kraft. Zugleich hat Hauptdarstellerin McEwen den emotionalen und moralischen Kampf ihrer Figur so tief verinnerlicht, dass man schnell vergisst, dass sie eine fiktive Person verkörpert. „Blue Jean“ ist zurückhaltendes Kino, hochkonzentriert und beklemmend intensiv, das immer Bodenhaftung bewahrt und nie über die Stränge schlägt.