Mit untrüglichem Rhythmusgefühl, unbändiger Kraft und intensivem Blick war Antoñita Singla Contreras eine der bekanntesten Flamenco-Tänzerinnen der 1960/70er Jahre. Geboren 1948, wuchs die Romni in einem Slum von Barcelona auf. Schon als Teenager trat sie in Kinofilmen und im Fernsehen auf, bald ging sie mit den besten Musikern des Genres auf Europa-Tournee.
Info
La Singla
Regie: Paloma Zapata,
95 Min., Spanien/ Deutschland 2023;
mit: Antoñita Singla
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Nachgespielte Interviews
Für die Inszenierung ihrer Spurensuche wählt Zapata ein eigenwilliges Verfahren: Die Interviews, die sie im Vorfeld selbst geführt hat, lässt sie von einer Schauspielerin (Helena Kaittani) vor laufender Kamera nachspielen. Was auch immer ihr Beweggrund gewesen sein mag – die nachgespielten Interviews haben mitunter den Anstrich einer telenovela.
Offizieller Filmtrailer
Nur mit Musik + Tanz kommunizieren
Doch das ist eher charmant als störend, zumal es den Erzählfluss nicht hemmt. Überdies imitiert die Regisseurin – möglicherweise im ironischer Absicht – ein Merkmal einer der für sie wichtigsten Quellen: Im TV-Film „Die Geschichte der Antoñita La Singla“ (1964) von Günther Sauer spielte die junge Tänzerin sich selbst; ihre Freunde übernahmen ebenfalls Rollen. Denn obwohl diese Produktion als Dokumentarfilm ausgegeben wurde, sind alle Szenen inszeniert; Regisseur Sauer mischte dabei großzügig Fakten mit Fiktion.
Im Mittelpunkt seines Films steht ein zweites Geheimnis, das „La Singla“ umgibt. Sie erkrankte wenige Tage nach ihrer Geburt, vermutlich an Meningitis, und verlor dadurch ihr Gehör fast vollständig. Erst mit 16 Jahren konnte sie fließend sprechen, erst vier Jahre später kehrte auch ihre Hörfähigkeit teilweise wieder. Bis dahin schien sie ausschließlich durch Musik und Tanz zu kommunizieren.
Erst hinsehen, dann tanzen
Die Energie, die sie dabei entfesselte, fasziniert bis heute – und drängt die Frage auf: Wie konnte sie als Gehörlose in so traumwandlerischer Art mit ihren Musikern kommunizieren? Bekannt ist, dass sie die Rhythmen verinnerlichte, indem sie als Kind ihrer Mutter beim Tanzen zusah. Im Konzert durch Gitarristen und die flamencotypischen palmas (Händeklatschen) begleitet, schaute sie also zuerst hin, bevor sie in die Kreismitte trat, um selbst die Führung zu übernehmen.
Das lässt sich in zahlreichen Bild- und Filmdokumenten nachvollziehen, welche die Regisseurin in Archiven ausgegraben hat; dort ist die Quellenlage durchaus üppig. Flamenco, zuvor eine reine Subkultur, wurde in den 1960er Jahren zum angesagten Spektakel für die Bohème – und La Singla war einer der großen Stars der Szene. 1963 wirkte sie mit Tanznummern am Kinofilm „Los Tarantos“ mit; darin inszenierte Regisseur Francisco Rovira Beleta eine spanische Variante des Romeo-und-Julia-Stoffes.
Ausbeuter-Vater steuert Karriere
La Singla tanzte auch auf Partys von Salvador Dalì und 1965 im wichtigsten Flamenco-Club von Madrid, dem „Los Califas“. Deutsche Konzertveranstalter schickten sie auf eine Europa-Tournee; von ihrem Auftritt beeindruckt, widmete der Jazz-Posaunist Albert Mangelsdorff ihr die Komposition „Never Let It End“, die 1970 auf dem gleichnamigen Album veröffentlicht wurde. Doch auf zeitgenössischen Fotos, die sie stets introvertiert zwischen jetset und aficionados zeigen, taucht immer öfter ein Mann auf, der wohl für ihr Verschwinden verantwortlich war.
Hintergrund
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Besser im Kino als im Internet
Aus diesem Frondienst befreite sie erst ihre Flucht in eine Ehe. Sie konnte noch ein Herzensprojekt verwirklichen, dann beendete eine mehrjährige Depression ihre Bühnenkarriere für immer. Als Regisseurin Zapata die Tänzerin schließlich in Barcelona aufspürt, hat diese keine einzige Erinnerung an ihre Karriere aufbewahrt. Zu schmerzhaft ist für sie diese Phase ihrer Vergangenheit.
Die Frage „Was macht eigentlich …?“ hat schon viele herzerwärmende Dokumentarfilme hervorgebracht. Zapatas Antwort ist eigenwillig, elegant und einfühlsam, selbst wenn sie sie sich aus dramaturgischen Gründen manchmal auf das Gebiet der Fiktion begibt. Vor allem erinnert sie mit großartigen historischen Musikszenen an eine herausragende Künstlerin. Diese Aufnahmen im Kontext und in bestmöglicher Qualität auf der Leinwand sehen zu können, statt als verwaschene Internet-Videos, ist das beste Argument für einen Kinobesuch.