Jean-Pierre + Luc Dardenne

Tori & Lokita

Die jugendliche Lokita (Joely Mbundu) und der elfjährige Tori (Pablo Schils), zwei junge Einwanderer aus Afrika, haben sich auf der Flucht nach Europa kennen gelernt. Foto: Cinejoy Movies
(Kinostart: 26.10.) Europa von unten: Das sozialrealistische Drama der Dardenne-Brüder zeigt, wie blind die Bürokratie für zwischenmenschliche Beziehungen ist – das treibt zwei junge Flüchtlinge aus Afrika in die Illegalität. Der unbequeme Film ist ein nüchternes Plädoyer für Humanismus.

Lokita (Joely Mbundu) bewegt sich auf dünnem Eis, als sie der Einwanderungsbeamtin ihre Geschichte auftischt. Derzufolge haben sie und ihr angeblicher Bruder Tori (Pablo Schils) sich nach ihrer Trennung später in einem Waisenhaus in Benin wiedergefunden. Doch die Ungereimtheiten sind einfach zu groß, damit diese Story glaubwürdig sein könnte. Die beiden haben nicht einmal dieselbe Muttersprache und reden miteinander Französisch.

 

Info

 

Tori & Lokita

 

Regie: Jean-Pierre + Luc Dardenne,

88 Min., Belgien/ Frankreich 2022;

mit: Joely Mbundu, Pablo Schils, Alban Ukaj

 

Weitere Informationen (französisch)

 

Aber Tori ist für das junge Mädchen die einzige Chance auf eine Aufenthaltsberechtigung in Belgien. Denn als so genanntes Hexenkind – solche Kinder werden in Afrika von ihren Familien verstoßen – hat der Elfjährige Anrecht auf Asyl. Für die Bürokratie spielt es keine Rolle, dass Lokita für den Jungen de facto die Rolle einer älteren Schwester übernommen hat, seit sie sich auf der Flucht kennengelernt haben. Verwandtschaft wird rein biologisch interpretiert, Wahlverwandtschaften zählen nicht – sei das Verhältnis auch noch so innig.

 

Zusammenhalt um jeden Preis

 

Dabei sind die beiden jungen Leute in einer rauen Welt gezwungen, um jeden Preis zusammen zu halten; sie haben sonst niemanden. Gemeinsam verkaufen sie für einen zwielichtigen Koch Drogen oder trällern für Kleingeld in einem Restaurant. Aber Lokita besteht auch darauf, dass Tori die Schule besucht und singt für ihn Gutenachtlieder. Der große Traum der Heranwachsenden ist, mit offiziellen Dokumenten einen Job als Haushaltshilfe zu finden, um mit Tori in eine Wohnung zu ziehen.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Hoher Preis für schlichten Traum

 

Die Schlichtheit dieses Traumes wirkt aus mitteleuropäischer Perspektive geradezu beschämend. Dabei steht Lokita unter großem Druck: Ihre Mutter in Benin erwartet, dass sie Geld schickt, um die Familie durchzubringen. Gleichzeitig sitzen ihr die Schleuser, die sie nach Belgien gebracht haben, wegen angeblicher Schulden im Nacken, und der Koch erwartet zusätzlich zum Dealen noch sexuelle Gefälligkeiten.

 

Kein Wunder, dass das Mädchen unter Panikattacken leidet. Diese verstärken sich, als die Ablehnung ihres Asylantrages Lokita in die Illegalität drängt. Man verspricht ihr gefälschte Papiere, wenn sie drei Monate lang eine illegale Hanfplantage betreut. Sie zieht dafür in eine grauenhafte Behausung aus rohen Betonwänden, wo sie einer ständigen Geräuschkulisse von Lüftern und Generatoren ausgesetzt wird. Am schlimmsten ist: Sie lebt in nahezu vollständiger Isolation von der Außenwelt.

 

Die Ökonomie des Lebens

 

Die SIM-Karte nehmen ihr die Kriminellen sofort ab, mit Tori darf sie nur in Ausnahmefällen telefonieren. Lokita ist zur Sklavin geworden. Zwar findet ihr kleiner Bruder einen Weg zu ihr, doch den Drogenhändlern ist jedes Mittel recht, um ihre illegale Plantage geheim zu halten.

 

In Lokitas und Toris Welt hat alles seinen Preis, seien es Dokumente oder Sex. Nur ihre gegenseitige Zuneigung ist von dieser umfassenden Ökonomisierung des Lebens ausgenommen. Gleichwohl ist offensichtlich, dass ihre Geschwisterbeziehung, wenn sie eine Zukunft haben soll, eine ökonomische Grundlage braucht – und einen legalen Aufenthaltsstatus.

 

Spröder Realismus

 

Die Betrachtung von Gesellschaft und Beziehungen unter dem Blickwinkel des Geldes zieht sich durch viele Arbeiten von Jean-Pierre und Luc Dardenne. In „Das Kind“ (2005) verkauft ein Vater seinen neugeborenen Sohn, in „Lornas Schweigen“ (2008) wird eine Ehe gegen Geld eingegangen, und in „Zwei Tage, eine Nacht“ (2014) werden für eine Prämie zwei Arbeitsplätze getauscht.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das unbekannte Mädchen" – sozialrealistisches Alltags-Drama von Jean-Pierre + Luc Dardenne

 

und hier eine Besprechung des Films "Zwei Tage, Eine Nacht" – Sozialdrama über drohenden Jobverlust mit Marion Cotillard von Jean-Pierre + Luc Dardenne

 

und hier einen Beitrag über den Film Films "Borga" – brillant vielschichtiges afrikanisches Migranten-Drama von York-Fabian Raabe

 

und hier einen Bericht über den Film "Le Havre" – märchenhafte Fabel über Flucht und Solidarität von Aki Kaurismäki.

Menschlichkeit kann man sich am unteren Rand der Gesellschaft kaum leisten. Daran leiden die Protagonisten ihrer Filme mal mehr, mal weniger bewusst. Auch in ihrem neuen Werk bleibt das Brüderpaar seinem spröden Realismus treu. Bei ihnen wirkt nichts inszeniert, sondern eher dokumentarisch.

 

Kino als Zumutung

 

Entsprechend nüchtern und frei von jeglichem filmischen Budenzauber sind die Bilder. Zu dieser Authentizität trägt bei, dass die Regisseure meist mit Laien arbeiten. Das trifft auch auf die glaubwürdig agierenden Darsteller des Geschwisterpaares zu. Dardenne-Filme sind Anti-Illusionskino, oft eine Zumutung, manchmal auch eine Bußübung. Jegliche Rührseligkeit liegt ihnen fern, Sozialromantik gibt es allenfalls in homöopathischen Dosen

 

„Tori & Lokita“ ist gewissermaßen das Gegenstück zu Aki Kaurismäkis märchenhaftem Film „Le Havre“ (2011), in dem sich die Bewohner eines Armenviertels  in der französischen Hafenstadt zusammentun, um einem Flüchtlingsjungen zu helfen. Hingegen faszinieren die Filme der belgischen Brüder gerade deshalb, weil sie so unbequem sind. Mit ihrem sozial engagierten Kino treffen sie mitten ins Herz.

 

Bilder, die im Kopf bleiben

 

Diese Filme fordern immer dazu auf, hinzusehen: was mit dem Nächsten passiert, welche Krisen sich in der Gesellschaft abspielen. Nur mit offenen Augen gibt es Hoffnung auf Besserung. Vielleicht bleiben die Bilder deshalb so lange im Kopf haften.