George Orwells düstere Prophezeiung in „1984“ ist inzwischen Wirklichkeit: Totale Überwachung der Bevölkerung wird mittels High-Tech praktiziert. Das bis vor kurzem bevölkerungsreichste Land der Erde macht es vor. Nirgends ist das Verhalten aller Bürger so transparent für den Regierungsapparat wie in der Volksrepublik China: mithilfe von Digitalkameras, Smartphones und biometrischer Gesichtserkennung.
Info
Total Trust
Regie: Jialing Zhang,
97 Min., VR China/ Deutschland/ Niederlande 2023;
mit: Zijuan Chen, Sophia Xueqin Huang, Wenzu Li
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Kafkaesker Alptraum
Im Zentrum des Films stehen zwei Kleinfamilien und eine Journalistin, deren Alltag etliche anonyme Kameraleute mit versteckten Telefonkameras begleiten und aufzeichnen. Er gleicht einem kafkaesken Alptraum. Zijuan Chen und ihr Sohn warten vergeblich auf Lebenszeichen ihres Mannes Weiping Chang. Der Anwalt ist seit 2020 inhaftiert, weil er die Interessen von Bürgern vertrat, deren Häuser nach offizieller Anordnung abgerissen worden waren.
Offizieller Filmtrailer
Am Verlassen der Wohnung gehindert
Eine von Changs Mandanten war die junge Journalistin Sophia Xueqin Huang, die wegen kritischer Berichterstattung ins Visier der Behörden geriet. Sie wurde kurz vor ihrer Ausreise in den Westen verhaftet. Dagegen berichtet der Anwalt Quanzhang Wang von Folter und Psychoterror im Gefängnis. Nach fünf Jahren wurde er entlassen; seither werden er, seine Frau Wenzu Li und ihr Kind massiv überwacht.
Alle Personen sprechen darüber ausführlich in Interviews. Zu sehen ist auch, wie hilflos sie der Staatsmacht ausgeliefert sind. Im Wohnblock von Wang und Li lungern etwa den ganzen Tag Gestalten im Treppenhaus herum und hindern die Familie daran, ihre Wohnung zu verlassen. Als Chen zu einem Gerichtstermin ihres Mannes fahren will, wird sie an der Provinzgrenze aufgehalten – unter dem Vorwand, ihr Gesundheitszustand sei bedenklich. Stundenlang muss sie mit ihrem Sohn im Auto ausharren, bis der Termin vorbei ist.
Punkte für Nachbarschafts-Patrouille
Die Staatsorgane üben subtile Gewalt aus: Sie zielt nicht auf Verletzung oder gar Liquidierung der Unliebsamen, sondern auf ihre psychologische Demoralisierung. Bemäntelt wird dies mit Sorge ums Gemeinwohl, dessen Optimierung im Interesse aller Bürger liege. Als Gradmesser des Verhältnisses von Individuen und Gesellschaft dient der digital erhobene und verwaltete „Sozialkredit“. Im Social Scoring System können die Teilnehmer wie in einer Spielshow Punkte sammeln und dafür Vergünstigungen einstreichen – oder sie verlieren.
Noch ist das System in der Testphase und besteht aus einer Reihe verschiedener Rankings, die zum Beispiel Bonität oder Arbeitseifer betreffen. Mit Pilotprojekten in Städten wie Rongchen strebt die Regierung seit 2020 ein einheitliches System an. Positiv-Punkte gibt es beispielsweise fürs Mitmachen bei einer Nachbarschaftswache. Dabei sammeln Bürger-Patrouillen Zigarettenstummel von der Straße und schreiben Falschparker auf.
Ohne Punkte kein Job oder Kredit
Sie bilden aber auch, falls per Anweisung von oben gewünscht, Wachmannschaften vor den Haustüren sozialer Abweichler und stigmatisieren sie damit in den Augen der gesamten Nachbarschaft. Denn Sanktionen sind im Sozialkredit-System wichtiger als Prämien: Die Zahl der Vergehen, die zu Punktverlust führen, ist fünf Mal größer als die der Chancen zum Punktgewinn.
Wer einen niedrigen Punkte-Level hat, muss damit rechnen, dass ihm Jobs, Ausbildungsplätze oder Finanzkredite verweigert werden. Oder er darf nicht die gewünschten Zugfahrkarten oder Flugtickets kaufen: Bereits 2019 sollen davon nach Angaben der britischen Zeitung „The Independent“ 5,5 Millionen Bahn- und 17.5 Flugreisende betroffen gewesen sein.
Hoffnung auf Schutz vor Betrug
Wobei ihr Punktekonto nicht nur von empirischen Daten wie Gesetzestreue und Zahlungsmoral abhängt, sondern auch von der Meinung ihrer Mitmenschen: Wechselseitige Beobachtung und Denunziation hat im chinesischen Kollektivismus eine lange Tradition. Deren Ausdehnung in die digitale Sphäre ist daher nicht unpopulär. Viele Chinesen erhoffen sich davon mehr Schutz vor Betrug bei Lebensmitteln, im Medizin- und Finanzsektor.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Cleaners" – fesselnde Doku über digitale Zensoren von Internet-Content in sozialen Medien von Hans Block + Moritz Riesewieck
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Arbeiten in Geschichte – Zeitgenössische chinesische Fotografie und die Kulturrevolution" – Vergangenheitsbewältigung auf Chinesisch im Museum für Fotografie, Berlin
und hier einen Bericht über den Film "Pre-Crime" – Doku über präventive Verbrechens-Bekämpfung mit Big Data und ihre Nebenfolgen von Monika Hielscher+ Matthias Heede
und hier einen Beitrag über den Film "Bis dann, mein Sohn (So long, my son)" – brillant vielschichtige Familien-Doppelchronik in China seit den 1980er Jahren von Wang Xiaoshuai.
Kindergeld-Skandal 2021 in Holland
Wobei die Konzentration allein auf China leicht vergessen lässt, dass Ähnliches ebenso in anderen Weltgegenden geschieht oder sich abzeichnet, auch im Westen. So forderten die niederländischen Steuerbehörden zwischen 2013 und 2019 von meist migrantischen Familien hohe Kindergeld-Beträge zurück, was die Betroffenen oft in finanzielle Not stürzte. Die Forderungen beruhten auch auf diskrimierenden Daten-Analysen – dieser Skandal führte im Januar 2021 zum Rücktritt der Regierung.
Erhellende und konstruktiver wäre also ein länderübergreifender Vergleich gewesen, etwa mit den ebenfalls hoch technologisierten Nachbarstaaten Taiwan, Südkorea oder Japan. Ganz abgesehen von der Frage, was westliche Behörden und Arbeitgeber nur zu gern vom chinesischen System übernehmen würden. Schon 2008 wurde publik, dass die Discounter-Kette „Lidl“ ihre Angestellten systematisch mit Video-Aufzeichnungen bespitzelte.