Die USA in den 1960er Jahren: Das klingt nach Landschaft und Licht, nach Gegenkultur, Sozial- und Drogenexperimenten, nach Emanzipation und Protest gegen den Vietnamkrieg. Dass diese mythische Mischung nur für eine Minderheit der weißen Bevölkerung die bestimmende Lebenskulisse abgab – daran erinnert der stylische Retro-Thriller „Eileen“ von Regisseur William Oldroyd. Der spielt im Winter an der Atlantikküste im provinziellen Bundesstaat Massachusetts. Hier lebt die Protagonistin Eileen Dunlop (Thomasin McKenzie) von einer trüben Woche zur nächsten.
Info
Eileen
Regie: William Oldroyd,
97 Min., USA/ Großbritannien/ Südkorea 2023;
mit: Anne Hathaway, Thomasin McKenzie, Shea Whigham
Weitere Informationen zum Film
Heimliche Gewaltphantasien
Da es sonst nichts zu tun gibt, gibt sie sich Träumereien hin, die entweder explizit erotische Inhalte haben oder darum kreisen, sich oder andere umzubringen. Insbesondere der Fall des Vatermörders Lee Polk (Sam Nivola), der in ihrer Anstalt einsitzt, dient ihr hierfür als Vorlage. Dann jedoch ändert sich alles mit dem Auftauchen der neuen Gefängnispsychologin Rebecca Saint John (Anne Hathaway). Mit ihr hält mehr als nur ein Hauch von Glamour und Modernität Einzug in die Welt von Eileen. Zu ihrer freudigen Überraschung scheint die Anziehung zwischen den beiden Frauen auf Gegenseitigkeit zu beruhen.
Offizieller Filmtrailer, OmU
Aus Freundschaft wird Pulp Fiction
Bestimmen anfangs dunkle oder triste Bilder in grobkörniger Optik den Alltag der Figuren, kehren nun Farben ein: Eileen beginnt, sich für die Treffen mit Rebecca herauszuputzen. Sie pflegt und schminkt sich und wählt aus der Garderobe ihrer Mutter immer exzentrischere Mäntel und Kleider aus. Eine Verabredung zum Trinken in der Bar des Ortes mit ihrer neuen Freundin führt geradewegs in den Exzess verbotener Tänze und neuer Träumereien. Am selben Abend kommt es zu ersten realen Handgreiflichkeiten gegen die konservative männliche Dominanz, die sie umgibt.
Diese Phase der Annäherung der Frauen erzählt der Film mit Witz und Drive; dann jedoch ändert sich unvermittelt der Ton. In einer plötzlichen Wende wird aus der Coming-of-Age-Erzählung mit sozialpsychologischer Grundierung ein Pulp-Thriller. Denn Rebecca, deren Methoden darauf abzielen, die ihr anvertrauten Delinquenten des Jugendgefängnisses nicht zu bestrafen, sondern zu verstehen, verstrickt sich immer tiefer im Fall von Lee Polk.
Rachefeldzug mit Sixties-Soundtrack
Aus ihrem Wunsch, die Wunden aus der Vergangenheit ihres Schützlings zu heilen, erwächst mit einem Mal ein Rachefeldzug, in den sie Eileen mit hineinzieht. Zunächst widerwillig, dann aber immer entschlossener nutzt Eileen diese Gelegenheit, ihre verbotenen Träume bis zur letzten Konsequenz umzusetzen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Lady Macbeth" – gelungene Shakespeare-Verfilmung durch William Oldroyd
und hier eine Besprechung des Films "Last Night in Soho" – Horror-Komödie im Swinging-Sixties-London von Edgar Wright mit Thomasin McKenzie
und hier einen Beitrag über den Film "Ocean's 8" – charmante Gaunerkomödie von Gary Ross mit Anne Hathaway
und hier einen Bericht über den Film "Carol" – ergreifendes lesbisches Melodram in den 1950er Jahren von Todd Haynes mit Cate Blanchett + Rooney Mara.
Unplausibler Registerwechsel
Mit dem Registerwechsel ins Thrillerfach sind dann aber augenscheinlich nicht nur die Charaktere selbst überfordert. Auch das von der Romanautorin Otessa Moshfegh mitverfasste Drehbuch schafft es nicht so recht, den Übergang von der träumerisch- phantastischen Innenwelt der Hauptfigur in die reale Gewaltanwendung und deren Konsequenzen plausibel zu machen.
Verglichen mit der differenzierten Anlage der Figuren und der Schilderung ihrer kurzen, intensiven Beziehung bleibt zudem das Ende deutlich zu offen und vage. So stellt sich nach einer recht unterhaltsamen und mitunter erhellenden ersten Hälfte der Eindruck ein, dass hier vielversprechendes Potenzial nicht bis zu Ende entwickelt wurde. Schade.