Es ist noch dunkel draußen, als Hirayama (Kōji Yakusho) die Augen aufschlägt. Einen Wecker braucht er nicht, seine innere Uhr funktioniert perfekt. Darauf folgt die Morgenroutine: aufstehen, Zähne putzen, ein paar Spritzer Wasser für die kleine Bonsai-Sammlung, kurz innehalten, weiter geht’s. Im Arbeitsoverall tritt er vors Haus und schaut zum Himmel hinauf. Ein neuer Tag bricht an, der alles bringen kann.
Info
Perfect Days
Regie: Wim Wenders,
123 Min., Japan/ Deutschland 2023;
mit: Koji Yakusho, Tokio Emoto, Arisa Nakano, Aoi Yamada
Weitere Informationen zum Film
Ein einfacher Mann
Aber um Geld und Besitz geht es dem gutmütigen Toilettenputzer nicht. Hirayama ist ein einfacher Mann, der seine Arbeit mit Leidenschaft und Hingabe ausübt. Auf seiner täglichen Route durch die Innenstadt Tokios poliert er jedes öffentliche stille Örtchen, als sei es das letzte Mal. Ein kleiner Handspiegel hilft ihm, selbst die hartnäckigsten Flecken unter der Kloschüssel zu finden. So viel Gründlichkeit muss sein.
Offizieller Filmtrailer
Leben ohne Drama
In seiner Mittagspause liest er William Faulkner oder fotografiert das Licht, das durch die Blätter der hohen Baumspitzen fällt. Im Japanischen gibt es ein Wort dafür: „Komorebi“ meint die Schattenspiele, die durch die Kraft der Sonnenstrahlen auf dem Boden oder an den Wänden entstehen. Hirayama liebt diese flüchtigen Schauspiele. Und er hat überhaupt für alles und jeden ein Herz, wie für den Obdachlosen im Park, den sonst keiner bemerkt.
Bei jedem anderen Film, jedem anderen Regisseur würde man spätestens an dieser Stelle fragen: Und jetzt? Aber „Perfect Days“ ist ein Film von Wim Wenders und kein Drama, das sich am herkömmlichen Drei-Akt-Prinzip orientiert. Die Handlung ist – wie Hirayamas Leben – auf das absolut Wesentliche reduziert. Wenders bewegt sich immer und überall auf Augenhöhe mit seinem Alltagshelden.
Die Nichte aus der Vergangenheit
Entstanden ist so eine sinnliche Charakterstudie im Hier und Jetzt. Dass auch Hirayama eine Vergangenheit hat, wird lediglich angedeutet, als plötzlich seine Nichte Niko (Arisa Nakano) vor der Tür steht. Längst hat man geahnt, dass dieser verschwiegene, gutmütige Mann sich aus einem bestimmten Grund in seiner Einsamkeit eingerichtet hat. Bei aller Ausgeglichenheit ist da auch stets ein Hauch von Wehmut in seinem Blick.
Aber Wenders bohrt nicht weiter nach, lenkt nicht ab. Auch Niko fügt sich nahtlos in Hirayamas Alltag ein. Der hat seinen Platz und seinen Frieden gefunden – nur darauf kommt es an. Erst kürzlich hat Wenders mit seinem bildgewaltigen 3D-Künstlerporträt „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ das Kino betört. Jetzt verzaubert der Regisseur die Zuschauer mit einem Film, der an die Werke seines großen Vorbilds Yasujiro Ozu erinnert – und er wird diesem Anspruch in jeder Szene gerecht.
Die Toiletten von Tokio
Man spürt, wie viel Respekt und Liebe Wenders der japanischen Kultur und ihren Menschen entgegenbringt. Den Regisseur verbindet eine lange, enge Beziehung zum Land. Bereits 1985 drehte er mit „Tokyo-Ga“ einen Dokumentarfilm über Ozu. Vier Jahre später widmete er dem Modedesigner Yohji Yamamoto in „Notebooks on Cities and Clothes“ ein filmisches Porträt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Anselm – Das Rauschen der Zeit (3D)" – bildgewaltige Doku über den Künstler Anselm Kiefer von Wim Wenders
und hier eine Besprechung des Films "Drive my Car" – subtiles Vergangenheitsbewältigungs-Drama in Japan von Ryûsuke Hamaguchi, prämiert mit Auslands-Oscar 2022
und hier einen Bericht über den Film "Kirschblüten und Rote Bohnen" – kulinarische Lebensweisheiten aus Japan von Naomi Kawase
und hier einen Beitrag über den Film "Shoplifters – Familienbande" – Porträt einer Prekariats-Familie in Japan von Hirokazu Kore-eda, Gewinner der Goldenen Palme 2018
Die Kraft der kleinen Gesten
Die Organisatoren hatten zunächst auf eine kleine Kurzfilmreihe gehofft. Stattdessen rückt Wenders die Bauten auf poetische, manchmal amüsant versponnene Art ins Zentrum eines Spielfilms. Auf einer seiner Putzrunden findet Hirayama in einer Toilette einen Zettel, auf dem ein Raster aus Zahlen und Kreuzen abgebildet ist. Er nimmt einen Stift und macht seinen Zug, bevor er das Papier zurücklegt. Am nächsten Tag stellt er zu seiner Freude fest, dass das „Schiffe versenken“-Spiel weitergeht – und man freut sich mit ihm.
Es sind diese unscheinbaren Augenblicke des Glücks, die „Perfect Days“ zu einem der stillen, großen Filme machen, die es heute nur noch viel zu selten gibt. Hirayama schwelgt in den Geheimnissen des Lebens, und das genügt. Zumal der Schauspieler Kōji Yakusho für diese Hauptrolle wie geschaffen ist: Er versteht sich auf die Kraft der kleinen Gesten, und so besticht seine Darstellung durch eine in sich ruhende Weisheit und Würde.