In einer abgelegenen Gegend im Osten der Türkei arbeitet die deutsche Filmemacherin Simone (Katja Bürkle) an einem Dokumentarfilm. Damit möchte sie kurdischen Aktivisten, die im schleichenden Bürgerkrieg mit der türkischen Armee und Organen der Zentralregierung verschleppt und ermordet worden sind, ein „immaterielles Denkmal“ errichten, wie sie es nennt. Im Fokus ihres Projekts stehen der Menschenrechts-Anwalt Eyüp (Aziz Çapkurt) und die Kurdin Hatice (Tudan Ürper). Sie bereitet noch 26 Jahre nach dem Verschwinden ihres Sohnes mit einem Ritual dessen Rückkehr vor und hält so das Andenken an ihn wach.
Info
Im toten Winkel
Regie: Ayşe Polat,
117 Min., Deutschland 2023;
mit: Aybi Era, Katja Bürkle, Ahmet Varli
Weitere Informationen zum Film
Ein unheimliches Mädchen
Dann bringt eine Dolmetscherin die siebenjährige Melek (Çağla Yurga) mit zum Dreh. Das Mädchen ist mit seinem starren Blick vor allem Kameramann Christian (Maximilian Hemmersdorfer) unheimlich. Zudem verunsichert sie das Team mit Detailwissen über den Anwalt Eyüp, den sie vorher nie gesehen hat. Auf seine Frage, woher sie so viel über ihn wisse, antwortet sie, ein unsichtbarer Freund verrate ihr seine Geheimnisse. Kurz darauf verschwindet Eyüp spurlos.
Offizieller Filmtrailer
Drei Perspektiven
In drei Kapiteln entwickelt sich „Im toten Winkel“ zu einem Polit-Thriller mit mysteriösen Elementen, der für wenige der Beteiligten gut ausgeht. Jedes Kapitel erzählt eine andere Version des Geschehens, das an Filme über politische Paranoia aus den 1960er bis 1980er Jahren erinnert: aus einer anderen Perspektive und mit anderem Schwerpunkt. Dabei umkreisen die Schilderungen aus der Sicht der Figur, die jeweils erzählt, die blinden Flecken der Ereignisse, die sich unaufhaltsam wie in einer griechischen Tragödie vollziehen. Jedes Mal enthält die neue Version weitere Details, die Leerstellen im zuvor Gezeigten auffüllen.
Obwohl diese Erzählstruktur die Chronologie außer Kraft setzt, gelingt es Regisseurin Ayşe Polat, die verschiedenen Ebenen ihrer Geschichte mit großer Leichtigkeit zusammenzuhalten. Nachdem das Filmteam und die meisten von ihm porträtierten Aktivisten das Ende des ersten Kapitels nicht überleben, rücken danach vor allem das Mädchen Melek und dessen Visionen sowie sein Vater Zafer (Ahmet Varlı) in den Mittelpunkt des Interesses.
Aus Kontrollwut wird Gewalt
Zafer arbeitet für eine autonom agierende Zelle des türkischen Geheimdienstes. Diese ist familiär-patriarchal organisiert; dem Chef ist daran gelegen, alles zu überwachen und zu kontrollieren. Da ist es nur logisch, dass er mit seinen Kollegen die Treffen zwischen Aktivisten und Dokumentarfilmern beschattet und sie zu beeinflussen sucht. Diese Kontrollwut führt jedoch nicht nur schnell zu mehr Gewalt, als eigentlich beabsichtigt war. Sie löst auch innerhalb der Geheimdienst-Zelle Furcht und Argwohn aus; Täter werden zu potenziellen neuen Opfern.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Memories on Stone – Bîranînên li ser kevirî" – raffinierter Meta-Film über Filmemachen in Kurdistan von Shawkat Amin Korki
und hier eine Besprechung des Films "Das Milan Protokoll" – komplexer Politthriller über den irakischen + syrischen Teil Kurdistans von Peter Ott
und hier einen Bericht über den Film "Bakur – North" – Dokumentation über die kurdische PKK-Guerilla von Çayan Demirel + Ertuğrul Mavioğlu
und hier einen Beitrag über den Film „Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters“ – Familienporträt kurdischer Aleviten in der Türkei von Orhan Eskiköy + Zeynal Doğan.
Fatale Bilderflut
Doch auch seine eigene Wohnung wird zu diesem Zeitpunkt bereits bis in den letzten Winkel von Kameras ausgespäht. Ihr Vorhandensein wiederum irritiert die sensible Melek, deren Verhalten immer seltsamer wird – bis Zafer ihr sein Mobiltelefon gibt, um ihre Visionen zu filmen. Damit gibt er ihr allerdings auch sein eigenes, verstörendes Bildmaterial an die Hand. Irgendwann schwirren dann derart viele Bilder und Bildebenen herum, dass die Folgen kaum noch zu steuern sind
Regisseurin Polat, die sich bereits 2013 in ihrem Spielfilm „Die Erbin“ innertürkischen Konflikten widmete, hat selbst alevitisch-kurdische Wurzeln. In ihrem ausgezeichnet gespielten und inszenierten Thriller führt sie vor, wie ungesühnte staatliche Gewaltakte und Erinnerungen an offene Wunden auf fatale Weise das Leben der Menschen in der Südosttürkei beeinflussen. Wie es im Film selbst heißt: Traumata bedeuten den Verlust von Gegenwart. Sie zwingen die davon Betroffenen zum steten Leben in der Vergangenheit.