An einem Flussufer im ländlichen China ist eine ältere Frau ermordet worden. Die Untersuchung des Falls leitet Ma Zhe (Zhu Yilong), der Chefermittler der örtlichen Kriminalpolizei. In den Fokus seiner Nachforschungen gerät schnell ein geistesschwacher Mann aus der Gegend. Praktischerweise spricht der freundlich wirkende Verdächtige nicht und lässt sich widerstandslos festnehmen. Der Polizeichef (Hou Tianlai) will schon die Aufklärung des Falls bekanntgeben, doch Ma Zhe bezweifelt, dass alles so einfach ist, wie es scheint. Stimmaufnahmen auf einer bei der Leiche gefundenen Musikkassette führen ihn auf eine neue Spur. Tatsächlich werden sich seine Ahnungen bewahrheiten: Bald gibt es weitere Morde.
Info
Only the River flows
Regie: Wei Shujun,
101 Min., China 2023;
mit: Zhu Yilong, Chloe Maayan, Hou Tianlai, Kai Tong
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Von einem Erfolg zum nächsten
Auch von Ma Zhe und seiner Abteilung wird verlangt, dazu beizutragen. In einer seiner zahlreichen Motivations-Ansprachen weist der Polizeichef darauf hin, wie erfolgreich das zurückliegende Jahr war. Daraus folgt im Sinne der Partei selbstverständlich, dass das nächste noch ruhmreicher wird. Schließlich lebt man in Zeiten, in denen die Familienplanung vom Staat organisiert wird und selbst die Natur beherrschbar erscheint. Zweifel an Beweisketten und der Aussagekraft von Indizien würden da nur stören. Der Polizeichef bevorzugt offensichtlich das Nächstliegende, denjenigen dingfest zu machen, der sich als Täter anbietet.
Offizieller Filmtrailer OmU
Stockende Ermittlung, fließende Adaption
Doch Ma Zhe entwickelt zunehmend Verständnis für die Motivlagen aller Verdächtigen, mit denen er in Kontakt kommt. Statt den Vorgaben zu folgen, verliert er sich in Details, die ihm den Fall immer rätselhafter erscheinen lassen. Seine Vorgesetzten sähen es am liebsten, wenn er sich mit einem eindeutigen Fahndungserfolg um den Verdienstorden bewerben würde. Stattdessen muss er ihnen Mal um Mal berichten, dass er in dem Fall nicht weiterkommt.
Diese Verfilmung eines Romans des avantgardistischen, in China sehr erfolgreichen Schriftstellers Yu Hua durch Regisseur Wei Shujun ist ein stimmungsvoll fließender Neo-Noir-Thriller. Wie in vielen gelungenen Werken dieses Genres dient die Kriminalhandlung vor allem dazu, das Bild einer Welt zu zeichnen, in der Menschen den Volten des Schicksals umso verständnisloser gegenüberstehen, je mehr sie sich bemühen, diese zu ergründen.
Im Angesicht des Absurden
Dem Film ist ein Zitat des existentialistischen Schriftsteller-Philosophen Albert Camus vorangestellt. Demnach gibt es angesichts der allgegenwärtigen Absurdität nur zwei Möglichkeiten: Entweder man kapituliert – oder man spielt selbst Schicksal und legt das „alberne, unlesbare Gesicht Gottes“ an. Diese Option weist freilich von vornherein in Richtung Hybris und Wahn.
Während Ma Zhe, oft von elegischer Klaviermusik begleitet, dem labyrinthischen Pfad seiner Ermittlungen folgt, wird sein Ausdruck von Szene zu Szene apathischer. Zugleich verschärft sich für den Polizisten die Lage auch zu Hause: Er und seine schwangere Frau erfahren, dass ihr Kind mit zehnprozentiger Wahrscheinlichkeit behindert auf die Welt kommen könnte – und das unter dem Regime der rigide durchgesetzten Ein-Kind-Politik.
Halluzinationen im Kino
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Are you lonesome tonight?" – stilsicherer Neo-Noir-Thriller aus China von Shipei Wen
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und hier ein Beitrag über den Film "Bis dann, mein Sohn (So long, my son)" – brillant vielschichtige Familien-Doppelchronik in China seit den 1980er Jahren von Wang Xiaoshuai
und hier einen Bericht über den Film "Feuerwerk am helllichten Tage – Black Coal, Thin Ice" – brillanter Neo-Noir-Krimi in Nordchina von Diao Yinan, Berlinale-Sieger 2014.
Dieses Setting ist nur einer von vielen schönen Einfällen des Regisseurs, um äußere Realität und neurotisches Innenleben des Protagonisten in eins fallen lassen. In kontrastreichen, bis ins Kleinste durchkomponierten Bildern in rauer 16-Milimeter-Optik lässt Wei Shujun seine Charaktere unter schweren Wolkenhimmeln ihrem Los entgegentaumeln. Gewaltszenen werden in dem langsamen ruhigen Erzählfluss zwar vorbereitet und angedeutet, aber nie in ihrer Drastik gezeigt.
Die Last des Kollektivs
Die Last, die das Leben unter der Bevormundung und den Erwartungen eines Kollektivs für jeden Einzelnen darstellt, bricht sich bei aller Lethargie auch immer wieder in grotesken Situationen und absurder Komik Bahn. Zum Beispiel zeigt sich, dass die größten Talente eines Polizisten sein schöner Gesang und die Fähigkeit zum Spagat sind. Doch der Grundton des Films bleibt düster. Als Ma Zhe nach vielen Zufällen, Irrungen und Wirrungen doch noch mit einem Verdienstorden dekoriert wird, könnte der Kontrast zu seiner Gemütsverfassung kaum größer sein.