Tina Satter

Reality

Reality Winner (Sydney Sweeney) soll geheime Informationen über die russische Beeinflussung der US-Wahlen weitergegeben haben. Foto: © Grandfilm/Mickey Mina LLC
(Kinostart: 8.2.) Wenn zuhause FBI-Agenten warten: Regisseurin Tina Satter zeichnet das vielschichtige Porträt einer Whistleblowerin, die Russlands Einflussnahme in den USA offenlegte. Mithilfe echter Vernehmungsprotokolle von ihrer Festnahme entsteht ein Dokudrama zwischen Kammerspiel und Thriller.

Der sprechende Name ist echt: Reality Winner heißt die junge Frau, die im Zentrum dieses außergewöhnlichen Spionage-Dokudramas steht. Ihr verstorbener Vater ließ die begabte Linguistin so taufen, weil er immer eine „echte Gewinnerin“ als Tochter haben wollte. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Als Reality Winner, die beim amerikanischen Auslandsgeheimdienst NSA arbeitet, am 3. Juni 2017 mit Einkaufstüten im Auto nach Hause kommt, warten zwei FBI-Beamte auf sie.

 

Info

 

Reality

 

Regie: Tina Satter,

83 Min., USA 2023;

mit: Sydney Sweeney, Josh Hamilton, Marchánt Davis 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Sie stellen sich freundlich vor und machen zunächst unverbindlichen Small Talk, doch in der Tasche haben sie einen Durchsuchungsbefehl. Ein Tonbandgerät läuft von Anfang an mit. Reality ist verunsichert und sagt zunächst nicht viel. Einer der beiden FBI-Männer namens Justin Garrick (Josh Hamilton) teilt der 25-Jährigen mit, dass sich die Ermittlungen auf „den möglichen Missbrauch von Verschlusssachen“ beziehen – gemeint ist damit ein Verstoß gegen das amerikanische Spionagegesetz von 1917.

 

Drei Jahre Haft

 

Ein paar Stunden später werden sie Winner als Whistleblowerin entlarven. Ihr Vergehen: Sie hat dem investigativen Online-Nachrichtenmagazin „The Intercept“ einen geheimen Bericht zugespielt, in dem es um Russlands Einflussnahme auf die US-Präsidentschaftswahl 2016 geht. Die tatsächliche Reality Winner erhielt dafür eine dreijährige Gefängnisstrafe; erst im Sommer 2021 wurde sie wieder freigelassen.

Offizieller Filmtrailer


 

Nichts wurde dazu gedichtet

 

Regisseurin Tina Satter stellt ihrem Debütspielfilm eine Erklärung voran: Die Dialoge zwischen den FBI-Beamten und Winner seien nicht gestellt, sondern entsprächen komplett der FBI-Audioaufnahme am Tag ihrer Festnahme. Wiederholte Einblendungen der Tonspur und Originalprotokolle liefern den Beweis. Nichts ist dazu gedichtet, nichts über das wahre Geschehen hinaus dramatisiert.

 

Dennoch liegt vom Beginn an ein unheimliches Gefühl in der Luft. Der Ort, den Winner für das Verhör vorschlägt, ist ein kahler Raum hinter der Küche. Einen Tisch oder Stühle gibt es nicht, nur grelles Neonlicht. Die Kargheit des Schauplatzes verstärkt die beklemmende Atmosphäre. Man spürt den unterschwelligen Horror, die Ausweglosigkeit von Winners Situation. Bei ihr macht sich Angst breit, die sich auch auf das Publikum überträgt.

 

Anspannung ist greifbar

 

Trotz der authentischen Dialoge ist „Reality“ inszeniert wie ein Thriller, nicht wie ein Dokumentarfilm. Er spielt mit dem, was wir wissen und was wir ahnen können. Die beiden Agenten verhalten sich zunehmend passiv-aggressiv. Ihr Lächeln wirkt aufgesetzt, ihre Körpersprache bedrohlich. Immer wieder betonen sie, dass Winners Kooperation „völlig freiwillig“ sei. Zugleich versuchen sie, die Verdächtige mit ihren Fragen in die Ecke zu drängen.

 

Die Anspannung ist in jedem Augenblick greifbar. Winner begegnet ihr mit einer Mischung aus Liebeswürdigkeit und Unruhe. Sie fügt sich dem Machtspiel, gibt bereitwillig ihre Schlüssel und ihr Telefon ab. Um Zeit zu gewinnen, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf ihre Haustiere: die verschreckte Katze unterm Bett und ihren Hund, der „keine Männer leiden kann“. Er muss in den Zwinger, bevor die Agenten mit ihrem Team das Haus durchsuchen können.

 

Profil einer Einzelgängerin

 

Sydney Sweeney trägt als Darstellerin der rätselhaften jungen Frau die Hauptlast des Films, und sie schultert das mit nuancierter Kraft. Neben der Frage, ob die Agenten ihr die Tat nachweisen können, tritt zunehmend Reality Winners vielschichtiger Charakter hervor. Satter und Sweeney zeichnen das Profil einer sportlichen Einzelgängerin, die Tieren eher vertraut als Menschen. Sie hat ein pinkfarbenes Sturmgewehr im Haus und verfügt über einen intakten moralischen Kompass.

 

Jedweder Ideologie scheint sie unverdächtig, was die Agenten zunehmend verwirrt. Am ehesten könnte man sie wohl als Patriotin bezeichnen. Sie hat vor ihrem Geheimdienst-Job bei der Air Force gedient, und so zeugen ihre Wortwahl und Wachsamkeit von Intelligenz und professioneller Erfahrung. Auch sie verfolgt eine Strategie: Sie muss herausfinden, wie viel die Agenten wissen, ohne selbst zu viel zu verraten. Einmal fragt sie: „Komme ich heute Abend ins Gefängnis?“ Die Sachlichkeit in ihrer Stimme verrät, dass sie innerlich längst auf den Ernstfall vorbereitet ist.   

 

Von der Bühne auf die Leinwand

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Official Secrets" – fesselnder Politthriller über Geheimnisverrat vor dem Irakkrieg 2003 von Gavin Hood mit Keira Knightley

 

und hier einen Beitrag über den Film "A Good American" –"Doku-Thriller" über den NSA-Agenten + Whistleblower Bill Benney von Friedrich Moser

 

und hier eine Besprechung des Films "Citizenfour"Oscar-prämierte Doku über den Überwachungs-Enthüller Edward Snowden von Laura Poitras

 

und hier einen Beitrag über den Film "We Steal Secrets: The Story of WikiLeaks" – anschauliche Doku von Alex Gibney mit Julian Assange + Bradley Manning.

 

Satter, die bisher als Theater-Dramaturgin und Regisseurin tätig war, hat die Abhörprotokolle bereits 2019 als Bühnenstück inszeniert. Gemeinsam mit ihrem Co-Autor James Paul Dallas erstellte sie die Filmversion – ein nervenaufreibendes, langsam eskalierendes Kino-Kammerspiel. Je mehr ihre Protagonistin unter Druck gerät, desto öfter greift Satter formal in das kafkaeske Szenario ein. So verzerren sich für einen kurzen Augenblick die Bilder auf der Leinwand, wenn Winners Wirklichkeit ins Wanken gerät.

 
Eine Zeit lang bildet sie sich ein, die Kontrolle über das Gespräch übernehmen zu können. Doch das ersehnte Gefühl der Überlegenheit will sich nicht einstellen. Dazu trägt ein langsam anschwellender Klang verzerrter Musik bei, der keine Ruhe gibt. Als Winners Beweggründe zur Sprache kommen, erweisen sie sich in erster Linie als idealistisch. Sie wollte nicht Edward Snowden nacheifern, sondern einfach nur das Richtige tun: „Wieso wird das nicht publik gemacht?“, fragte sie sich, als sie die geheimen Dokumente in den Händen hielt – und schmuggelte sie aus dem Büro.

 

Überwachung versus Öffentlichkeit

 

Daher zielt „Reality“ über diesen Einzelfall hinaus auf große Fragen: Was darf die Regierung der Öffentlichkeit vorenthalten? Wie viel staatliche Überwachung ist legitim? Wo verläuft die Linie zwischen nationaler Sicherheit und öffentlichem Interesse? Verpackt als realitätsnaher Thriller, kommt Satters Dokudrama mit Blick auf die bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen 2024 gerade zur rechten Zeit.